Zwischen Anerkennung und Missachtung (erd-zam)

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Zur französischsprachigen Seite: Entre reconnaissance et déconsidération

Die Studie untersucht Erfahrungen von Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, die zwischen 1950 und 2010 in Institutionen der Körperbehindertenfürsorge (Deutsch- und Westschweiz) rehabilitiert und sozialisiert wurden. Die Erfahrungen werden im Spannungsfeld von Anerkennung und Missachtung eingeordnet.

Projektleitung

Carlo Wolfisberg Titel Prof. Dr.

Funktion

Leiter Institut für Behinderung und Partizipation / Professor / Leiter Master Schulische Heilpädagogik 11/19

Susanne Schriber Titel Prof. em. Dr.

Funktion

Emeritiert/Pensioniert

Fakten

  • Dauer
    09.2018
    02.2023
  • Neue Projektnummer
    3_26

Projektteam

Finanzielle Unterstützung

Co-Forschende

  • Francesco Bertoli (†)
  • Fabiana Gervasoni, MA
  • Sebastien Kessler, MA
  • Nathanaël Lack
  • Nadja Schmid
  • Miriam Serafini, MA

Ausgangslage und Ziele

In Institutionen der Körperbehindertenfürsorge für Kinder und Jugendliche finden alle Massnahmen der Rehabilitation an einem Ort statt, was die Biographie und Sozialisationserfahrungen der Kinder und Jugendlichen nachhaltig prägt. In den relativ geschlossenen Systemen der Institutionen kann es auch auf Grund der grossen Vulnerabilität und Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen zu Integritätsverletzung kommen. Betroffene berichten immer wieder über Erfahrungen in einem Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Zwang, Selbst- und Fremdbestimmung, Macht und Ohnmacht und teilweise auch von traumatischen Erlebnissen in der institutionalisierten Körperbehindertenfürsorge.

Auf wissenschaftlicher Ebene wurden Erfahrungen von betroffenen Menschen bislang wenig aufgearbeitet, es fehlen institutionsübergreifende Untersuchungen und ein entsprechender Diskurs zu Zwangsmassnahmen, Fremdbestimmung, Gewalt, Abhängigkeitserleben sowie Schutz und Fürsorge in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Ziel dieses Projektes war es, diese Spannungsfelder zwischen Anerkennung und Missachtung aus Sicht der Betroffenen aufzuarbeiten und aus ihren Erfahrungen Erkenntnisse über anerkennungsfördernde Strukturen und Angebote für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen zu gewinnen.

Fragestellung

  1. Welche Erfahrungen der Anerkennung und Missachtung haben Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen («Betroffene») in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik in der West- und Deutschschweiz zwischen 1950 und 2010 gemacht?
  2. Wie haben sich diese Erfahrungen (in subjektiver Deutung) auf die Biografien der Betroffenen ausgewirkt?
  3. Was sind zentrale Faktoren der Anerkennung und Missachtung und lassen sich diese als inter-subjektive Muster der Biografien deuten?
  4. In welchem Kontext der Körperbehindertenpädagogik können die Erfahrungen zeitgeschichtlich verortet werden?
  5. Welches Bewusstsein zu Anerkennung und Missachtung ist in Institutionen der Kör-perbehindertenpädagogik der Gegenwart (ab 2010) gegeben und mit welchen Massnahmen wird Anerkennung zukünftig gefördert und gesichert?

Methodisches Vorgehen

Die Studie wurde von Grund auf partizipativ unter Einbezug der Stakeholder (Betroffene, Fachpersonen der Praxis, akademisch Forschende) in allen Phasen des Forschungsprozesses aufgebaut. Dies betraf die Erhebung der zu analysierenden Daten durch Interviews mit Betroffenen, aber auch das Design der Studie, die Interpretation der Daten mit betroffenen Co-Forschenden sowie die Triangulierung von Ergebnissen mit Fachpersonen der Praxis. Auf Grund dieser partizipatorischen Ausrichtung des Projekts wurden die methodischen Schritte nach Besprechung an Round-Table-Diskussionen unter Einbezug von insgesamt sechs Co-Forscherinnen und Co-Forscher aus beiden Sprachregionen fortlaufend angepasst.

Die Interviewpartnerinnen und -partner waren Personen aus der Deutsch- und Westschweiz. Es wurden drei Alterskohorten gebildet, um Veränderungen aufzeigen zu können: Jahrgänge um 1950, 1970 und 1990.

Als Interviewmethode wurden Narrative Interviews gewählt. Diese Methode wurde ausgesucht, um vor einer Retraumatisierung zu schützen und das Erzählen von subjektiven Erinnerungen und Episoden zu fördern.

Die Interviews wurden transkribiert und es wurde eine qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt. Die Daten wurden wichtigen Lebensbereichen der Institutionen zugeordnet (z. B. Schule, Betreuung, Therapie etc.). Dabei lag der Fokus auf den Erfahrungen und Beschreibungen von «Anerkennung und Missachtung». Diese sozialphilosophische Theorie geht auf Axel Honneth zurück und wurde in der Sonderpädagogik durch Markus Dederich sowie Sandro Ferdani und anderen zu einem wichtigen Referenzrahmen. Die Ergebnisse der Interviews wurden von den akademisch Forschenden mit Hilfe eines historischen Quellenkorpus in die zeitgeschichtlichen Theorien der Körperbehindertenpädagogik und den Historien der Institutionen eingeordnet. Die Ergebnisse wurden in einem Gespräch mit Führungspersonen, diskutiert, die aktuell in leitenden Positionen der Körperbehindertenpädagogik verantwortlich tätig sind.

Ergebnisse

Als grosser Entwicklungsbogen über alle Lebensbereiche konnte nachgewiesen werden, dass in der ersten untersuchten Periode um 1950 – teilweise auch in der zweiten um 1970 – das Paradigma der Fremdbestimmung dominierte, in welchem Erfahrungen der Missachtung geschildert wurden. Ab der zweiten Epoche rückten individuelle Zuwendung und Mitbestimmung in den Vordergrund, Erfahrungen der Anerkennung nahmen mehr Raum ein. Andere Themen und Probleme bestehen auch in der dritten Periode (1990), so etwa die Heterogenität der Lernenden, die begrenzten Möglichkeiten beruflicher Ausbildung oder die Integration im Freizeitbereich.

Diese Themen sind auch in der Gegenwart noch von Bedeutung. Ziehen wir die UN-Behindertenrechtskonvention bei, so wird sichtbar, dass hinsichtlich Partizipation in vielen der untersuchten Lebensbereiche nach wie vor Entwicklungsbedarf besteht.

Im nachfolgenden Abschnitt «Publikationen» ist der umfassende Forschungsbericht sowie eine Kurzfassung dazu abgelegt. Die Kurzfassung wurde zudem in Leichte Sprache übersetzt; auch dieser Text ist hier aufgeschaltet.

Forschungsberichte ERD-ZAM

Publikationen

  • Blatter, V., & Schriber, S.
    (2021).
    PEQ (Perceptions of Equilibrium Questionnaire): Download und Anwendung des PEQ.
    Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH).
  • Blatter, V., Schriber, S., Wolfisberg, C., & Kaba, M.
    (2021).
    Erwachsene mit motorischen Beeinträchtigungen blicken auf ihre Zeit in Förderschulen zurück: "Kuschelpädagogik" und "Goldener Käfig".
    Zeitschrift für Heilpädagogik,
    72
    (11),
    604–619.
  • Schriber, S., Wolfisberg, C., Kaba, M., & Blatter, V.
    (2020).
    Zwischen Anerkennung und Missachtung Sozialisationserfahrungen von Menschen mit Körperbehinderungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik.
    Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik (SZH),
    26
    (1),
    46–53.
  • Kaba, M., Wolfisberg, C., Blatter, V., & Schriber, S.
    Expériences vécues de personnes ayant un handicap physique ou un polyhandicap dans des institutions suisses entre 1950 et 2010
    [Konferenzvortrag].
    4e Colloque franco-latino-américain de recherche sur le handicap "Quelles sociétés du vivre-ensemble?",
    Québec, Canada.
  • Graser, J., Schriber, S., Wolfisberg, C., Kaba, M., & Blatter, V.
    (2021).
    Physiotherapie im Wandel bei Kindern mit sensomotorischen Beeinträchtigungen.
    physiopaed Bulletin,
    39,
    54–60.
  • Blatter, V.
    “…and this is why I’m fighting for inclusion”: Using one’s (hi)story to make a case for structural change in narrative interviews.
    [Konferenzvortrag].
    International Oral History Conference 2021,
    Singapore.
  • Schriber, S., Wolfisberg, C., Blatter, V., & Kaba, M.
    (2022).
    «So ein wenig meine Geschichte»: Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen blicken in narrativen Interviews auf ihre Zeit in den Sonderschulen zurück.
    Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik,
    28
    (7-8),
    22–29.
  • Wolfisberg, C., Schriber, S., Kaba, M., & Blatter, V.
    "Zwischen Anerkennung und Missachtung": Design und Ergebnisse.
    Forschungskolloquium, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik,
    Zürich, Schweiz.
  • Wolfisberg, C., Schriber, S., Kaba, M., & Blatter, V.
    (2022).
    Schlussbericht Forschungsprojekt erd-zam.
    Schlussbericht des Forschungsprojektes erd-zam (2018 - 2022).
  • Wolfisberg, C., Schriber, S., Kaba, M., & Blatter, V.
    (2022).
    Zwischen Anerkennung und Missachtung: Sozialisationserfahrungen von Menschen mit Körperbehinderungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik der Deutsch- und Westschweiz.
    Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete,
    (4),
    332–334.
  • Blatter, V.
    Minderjährige, denen infolge eines […] Gebrechens der Besuch der Volksschule nicht möglich oder nicht zumutbar ist: Neue (meta-)theoretische Ansätze bei der Schliessung thematischer Forschungslücken in der Geschichte der Sonderpädagogik
    [Konferenzvortrag].
    Zwischentagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft – Sektion Historische Bildungsforschung: Historiographie der Sonderpädagogik,
    Zürich, Schweiz.
  • Kaba, M., Wolfisberg, C., Blatter, V., & Schriber, S.
    (2022).
    La formation des jeunes en institution spécialisée favorise-t-elle « l’intégration sociale » et l’autonomie ? Eclairage historique à partir d’expériences vécues de personnes ayant des déficiences physiques ou multiples en Suisse romande (années 1960 – 2000).
    Aequitas,
    28
    (2),
    102–122.
  • Wolfisberg, C., Schriber, S., Kaba, M., & Blatter, V.
    (2024).
    Zwischen Anerkennung und Missachtung: Wandel und Konstanten in der Bildung von Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen in Institutionen der Körperbehindertenpädagogik zwischen 1950 und 2010.
    In C. Häfeli, M. Lengwiler, & M. Campanello (Hrsg.),
    Zwischen Schutz und Zwang: Normen und Praktiken im Wandel der Zeit. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 1
    (S. 123–137).
    Schwabe.