Allen gerecht werden!?

Kategorie Institutsthema

Gerecht sein ist ein pädagogischer Imperativ, doch alles andere als einfach. Eine Auseinandersetzung mit Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit und Bildungsgerechtigkeit im heil- und sonderpädagogischen Kontext.

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Claudia Ziehbrunner Titel Prof. Dr.

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Leiterin Zentrum Ausbildung und Weiterbildung / Professorin

Im Zuge der Integrationsdiskurse der 1970er-Jahre und spätestens mit der UN-Behindertenrechtskonvention (2006) manifestieren sich im Kontext inklusiver Bildung Fragen sowohl zu Gleichheit als auch zu Gerechtigkeit. Während auf der einen Seite der Gleichheitsbegriff (Gleiches Recht für alle!) in vielfältigen, mitunter stark emotional gefärbten Diskursen aufgegriffen wird, fristet die Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsbegriff (Wie werden wir unseren Schüler:innen gerecht?) in der Pädagogik ein tendenzielles Schattendasein.

Gerecht sein! – Ein pädagogischer Imperativ. Die Frage zum Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit ist gerade unter der Perspektive Gerechtigkeit für die inklusionspädagogische Praxis von höchster Relevanz. Dies zeigt sich umgangssprachlich im Ausdruck «allen Kindern gerecht werden zu wollen». Nicht selten geht mit diesem pädagogischen Imperativ eine dilemmatische Spannung einher: Ist es gerecht, dass ich für ein einzelnes Kind so viel mehr Zeit aufwende als für alle anderen? Haben nicht alle das gleiche Recht dazu, meine Zeit und Zuwendung in Anspruch zu nehmen? – Ist es gerecht, wenn ich erwarte, dass sich alle an die gleichen Regeln halten, auch wenn dies den Kindern ungleich schwerfällt?

Gerecht sein? – Alles andere als einfach. Nicht zuletzt zeigt sich in diesen Fragen die enge Verwobenheit von Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen und es scheiden sich die Geister daran, ob nun Gleichbehandlung als gerecht zu verstehen sei, oder im Gegensatz dazu gerade Ungleichbehandlung jene Maxime darstellt, die in Gerechtigkeit mündet.

Gleich ist nicht gleich gleich. Zunächst aber: Was meint eigentlich gleich? Im Kontext von Inklusion rückt insbesondere der von Prengel (2006) geprägte Gleichheitsbegriff in den Vordergrund. Auf den Punkt gebracht: «Gleich ist nicht gleich gleich» und Gleichheit ist kein universelles Gut, auf das ein allgemeiner Rechtsanspruch überhaupt möglich wäre. Um Gleichheit feststellen zu können, bedarf es der Verschiedenheit. Gleichheit oder Gleichartigkeit kann sich stets nur auf einzelne Merkmale beziehen, als eine Form der Übereinstimmung vorgenommener Vergleiche von Verschiedenem. Weder Gleichheit noch Verschiedenheit können für sich alleinstehen. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Im Unterschied dazu kann dagegen Vielfalt für sich alleinstehen. Vielfalt bedarf keiner Vergleiche, sie ist universell. Gemeint ist «die gegebene Mannigfaltigkeit der Welt, der Personen und Sachen, sowie deren unaufhörliche Veränderlichkeit» (Prengel, 2006, S. 30). Daraus lässt sich ein universeller Gleichheitsentwurf ableiten: Gleichwertigkeit des Verschiedenen, Akzeptanz gleichwertiger Differenzen.

Gleichwertigkeit des Verschiedenen, Akzeptanz gleichwertiger Differenzen – ein universeller Gleichheitsentwurf.

Eine universelle Gleichheitsvorstellung im Anschluss an das Konzept von Vielfalt geht weniger vom Gleichen als vielmehr vom Gleichwertigen aus. Sie definiert die Gleichwertigkeit des Verschiedenen als Kern und mündet in die Akzeptanz gleichwertiger Differenzen. Universelle Gleichheit wird insofern normativ begrenzt, als beispielsweise aggressives, destruktives oder selbstverletzendes Verhalten über pädagogische Intervention überwunden werden soll. Inwiefern kann nun pädagogisches Handeln in demokratischen Bildungssystemen und in Anbetracht einer solch universellen Gleichheitsvorstellung gerecht sein?

Chancengleichheit – Chancengerechtigkeit. Eine Auseinandersetzung mit bildungsbezogenen Gerechtigkeitsvorstellungen findet spätestens ab den 1960er-Jahren über den viel diskutierten Begriff der Chancengleichheit statt. Ihm wird im Zuge der Inklusionsdiskurse ab der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts der Terminus Chancengerechtigkeit gegenübergestellt.

  • Chancengleichheit zielt darauf, über institutionalisierte Bildung ungleiche Lernausgangslagen, die aus personenbezogenen, sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Verhältnissen resultieren (Dederich, 2016), auszugleichen. So erhalten in einem demokratischen Staat wie der Schweiz alle Schüler:innen eine gesetzlich geregelte und inhaltlich über Lehrpläne definierte Schulbildung, und zwar unabhängig davon, ob sie beispielsweise einem Arbeitermilieu oder einem akademischen Milieu entstammen. Damit verbindet sich die gleiche Chance, höhere Leistungsziele und damit einen höheren sozio-ökonomischen Status (Einkommen, Macht, weitere Privilegien), zu erreichen. Die soziale Schichtung wird meritokratisch legitimiert und über chancengleiche Bildung in eine leistungsbezogene Schichtung transformiert. Chancengleichheit steht damit in enger Koppelung mit dem Leistungsprinzip.
  • Chancengerechtigkeit adressiert die Ungleichheiten innerhalb des Bildungssystems. Standardisierte Bildungsangebote in demokratischen Bildungssystemen treffen auf individuelle Lernausgangslagen, Interessen und Neigungen. Das gleiche Angebot erzeugt Schul- und Lernrealitäten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Es besteht das Risiko, dass sich systematische Benachteiligungen manifestieren und dadurch soziale Ungleichheiten produziert beziehungsweise reproduziert werden. Chancengerechtigkeit wendet sich gegen dieses Risiko, indem sie die Gleichwertigkeit individueller Unterschiede anerkennt. Sie steht in enger Koppelung mit sozialethischen Anerkennungstheorien und zielt auf die Überwindung von Benachteiligungen, die durch das System selbst erzeugt werden.

Die Frage nach Gerechtigkeit ist sowohl an jene der Gleichheit als auch an jene der Vergleichbarkeit gebunden.

Bildungsgerechtigkeit. Von Bildungsgerechtigkeit kann gesprochen werden, wenn einerseits gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Bildung für alle mit dem Ziel des Ausgleichs sozialer Ungleichheiten geschaffen werden (Chancengleichheit), andererseits systemimmanente Benachteiligungen, die sich aufgrund mangelnder Passung zwischen individuellen Lernausgangslagen und dem Bildungsangebot manifestieren, für alle vergleichbar überwunden werden können (Chancengerechtigkeit). Die Frage nach Gerechtigkeit ist somit sowohl an jene der Gleichheit als auch an jene der Vergleichbarkeit gebunden.

Gerecht ist nicht gleich gerecht. Gleichheit und noch deutlicher Vergleichbarkeit bleiben Begriffe mit äusserst unscharfen Rändern. Wie weit sollen beispielsweise Ressourcen im Bildungssystem – in Anbetracht des ohnehin festgestellten Mangels an ausgebildeten Fachpersonen – ungleich verteilt werden, um vergleichbare Bedingungen zur Aneignung standardisierter Lerninhalte zu schaffen? Tatsächlich gibt es, was die gerechte Verteilung von Gütern (Nahrung, Kleidung, Bildung, usw.) anbelangt, unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen. Für demokratische Gesellschaften sind deren zwei zu unterscheiden:

  • Non-egalitaristische Gerechtigkeitsvorstellungen sind im Kern durch Suffizienz gekennzeichnet. Alle Menschen sollen genug Güter haben, zum Beispiel Bildung, um ihre Vorstellung von einem guten Leben verwirklichen zu können. Eine ungleiche Verteilung von Gütern bedarf der Kompensation, wenn ein als ausreichend definierter Standard nicht erreicht werden kann.
  • Egalitaristische Gerechtigkeitsvorstellungen sind im Kern durch Gleichheit gekennzeichnet. Ein Mensch hat Anspruch auf ein bestimmtes Gut, zum Beispiel Bildung, weil andere es auch haben. Ungleichheit, die durch Zufall oder naturbedingte Willkür entsteht, bedarf der Kompensation durch Ungleichverteilung von Gütern.

Egalitäre Bildungsgerechtigkeit gewährleisten, durch Überwindung von Anerkennungsdefiziten.

Inkludierendes vs. exkludierendes Potenzial. Verbindet man diese unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen mit der dem universellen Gleichheitsentwurf (Prengel, 2006) entnommenen Gleichwertigkeit des Verschiedenen, der Akzeptanz gleichwertiger Differenzen und dem sozialethischen Ziel gleicher Anerkennung und Inklusion aller, dürfte sich feststellen lassen, dass non-egalitaristische Gerechtigkeitsvorstellungen tendenziell exkludierendes Potenzial bergen, da sie auf eine Ungleichverteilung von Gütern verzichten, sobald die Erreichbarkeit eines Minimalstandards gewährleistet scheint. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass einem Kind die Möglichkeit einer integrativen Schulung verwehrt und eine Sonderschulung als ausreichend erachtet wird, da ihm damit genauso wie allen anderen Kindern das Recht zum Schulbesuch (Minimalstandard) eingeräumt wird. Dagegen ist egalitaristischen Gerechtigkeitsvorstellungen tendenziell inkludierendes Potenzial immanent. Kinder, die in enger Nachbarschaft beieinander wohnen, haben das Recht, im wohnortnahen Schulhaus gemeinsam unterrichtet zu werden, da das jeweils andere Kind ebendieses Recht hat.

Egalitäre Bildungsgerechtigkeit. Dies mündet abschliessend in den Terminus Egalitäre Bildungsgerechtigkeit, denn Inklusion und egalitaristische Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Allein Egalitäre Bildungsgerechtigkeit nimmt den Anspruch der sozialen Gleichheit im Sinne von Gleichwertigkeit auf und zielt auf den Ausgleich systematischer Benachteiligung sowie auf die Überwindung von Anerkennungsdefiziten in Bildungsprozessen.

Ausgewählte Literaturhinweise für interessierte Leser:innen

  • Dederich, M. (2016). Bildungsgerechtigkeit. In: I. Hedderich, G. Biewer, J. Hollenweger & R. Markowetz (Hrsg.). Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kapitel 14.
  • Felder, F. (2016). Anerkennung. In: I. Hedderich, G. Biewer, J. Hollenweger & R. Markowetz (Hrsg.). Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kapitel 15.;
  • Fischer, J. (2009). Egalitaristische und nonegalitaristische Gerechtigkeit. Dissertation, Universität Zürich.
  • Flottmann, F. (2013). Zur Chancengleichheit von Kindern auf dem Bildungssektor. Eine vergessene Aufgabe der Philosophie. Dissertation, Universität Bielefeld.
  • Prengel, A. (2006). Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Schule und Gesellschaft, Band 2, Ed. 3, 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Prengel, A. (2015). Verschiedenes, das einander nicht untergeordnet ist. Bildungstheoretische Reflexionen zur Pädagogik der Vielfalt. Ethik und Unterricht, 26(3), 16-19.
  • Ziehbrunner, C. (2021). Die Programmatik Inklusiver Bildung. In: Inklusionsbezogene Orientierungen von Lehramtsstudierenden. Dissertation, Pädagogische Hochschule Freiburg. Kapitel 4.2.