Nachbericht: Podiumsdiskussion zum Kinofilm «Systemsprenger»

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«p>Unter dem Titel «Verhaltensauffällig - und jetzt?» diskutierten Martin Jany, Schulleiter der Schule Friedheim, einer Institution für Kinder und Jugendliche mit Verhaltens- und Lernschwierigkeiten, und drei Dozierende der HfH: Lic. phil. Margaretha Florin, Prof. Dr. Markus Matthys und Prof. Thomas Lustig. Ein Gremium von Fachpersonen, die sich in Theorie und Praxis mit Unterrichtsstörungen und auffälligem Verhalten auseinandersetzen. Moderiert wurde der Anlass von Claude Bollier.

Bernadette ist eine wilde Neunjährige mit unglaublicher Kraft und Ausdauer. Schon früh muss sie Schlimmes erleben und setzt durch ihr auffälliges Verhalten ihre Chancen für die Zukunft aufs Spiel. Sie ist aber auch eine Herausforderung für ihr Umfeld, welches immer wieder an Grenzen stösst, und in der Amtssprache ein «Systemsprenger».

Die erste Frage nach der Vorführung des Filmes im Arthouse Kino Movie 1 an das Podium war: Wie fühlt Ihr Euch? Was ist euch durch den Kopf gegangen? Die Antworten reichten von zornig, ob der Hilflosigkeit der Fachpersonen bis hin zu Bewunderung für die schauspielerische Leistung der Helena Zengel. Dass unterstützende Massnahmen der Psychotherapie oder der Elternarbeit sicher hilfreich gewesen, diese aber im Film nicht vorkamen, wurde bedauert. Weiterhin berührte die Unberechenbarkeit der Benni, ihre Suche nach Nähe, Geborgenheit und Stabilität, ihre sanfte Seite und im Gegensatz dazu stehen ihre Gewaltausbrüche, die sich gegen sich selbst und gegen andere richteten.

Das Podium beschäftigte sich auch mit der Frage, ob der Film realistisch sei. Dies wurde bejaht, ähnliche Situationen wie im Film gäbe es mit rund 5% aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen. Martin Jany: «Diesen Film sehe ich jeden Tag». Die Ursache für auffällige Verhaltensweisen liegt oft in Beziehungsthemen. Die Kinder hätten zwar meist viele Ressourcen, wie das Interesse für die Natur, diese Ressourcen träten aber oft in den Hintergrund.

Die Situation der alleinerziehenden Mutter rief grosse Verwunderung hervor. Hier wäre ein wirkungsvoller Ansatz für Hilfe möglich gewesen. Markus Matthys betonte, die Notwendigkeit, das «Familiensystem zu stärken». Es hätte einen systemischen Ansatz gebraucht, der das Umfeld des Kindes einbezieht.

Insgesamt zeigte der Film ein Versagen des Helfernetzes, das Benni eigentlich hätte auffangen müssen. Eine mangelnde Fallführung, zu wenig Auseinandersetzung mit dem Kind oder auch zu wenig Austausch unter den Erwachsenen wurden weiterhin als Gründe für das Verhalten von Benni genannt. Margaretha Florin erwähnte, dass genau hier die Psychotherapie ansetzt, direkt Traumabearbeitung macht und an den Kompetenzdefiziten arbeitet. Das ist zum Teil auch heilpädagogische Arbeit: Wie kann Benni ihre Impulse teilweise kanalisieren und kontrollieren?

Martin Jany erwähnte, dass man vor allem schauen muss, was funktioniert bei dem Mädchen: «Da geht so vieles: Es beginnt bei ihrer Freude an den Schnecken, am Holzhacken. Da müssen die Eltern einbezogen werden und hören, das Kind hat Erfolg und ihr habt auch Erfolg.»

Moderator Claude Bollier stellte weiterhin die Frage: Werden solche Kinder überhaupt integriert? Thomas Lustig wies darauf hin, dass »zwei bis drei Stunden heilpädagogische Unterstützung nicht ausreichen würden, sondern es müsste auch noch eine andere Fachpersonen mit anderen Befähigungen mit im Boot sein. Neben den Schullektionen selbst ist auch zentral: Was machen wir mit den Kindern über den Tag? Ganz wichtig ist die Frage, wo und zu welchem System fühlen sich die Kinder zugehörig.”

Wirkungsvoll könnte in solchen Fällen das Vorgehen nach der «Neuen Autorität» sein, welches in der Schule Friedheim praktiziert und an der HfH unterrichtet wird. Martin Jany: «Ob ein Kind an der Schule bleiben kann oder nicht diskutieren wir, wenn möglich nicht. Früher ist es oft passiert, jetzt aber nicht mehr, weil wir das nicht wollen. Wir bleiben bei dem Kind und wir arbeiten mit dem Ansatz der neuen Autorität.»

Aber was geschieht mit solchen Kindern wie Benni? Wo kommt der Systemsprenger hin, wenn er das System gesprengt hat? Im Film blieb diese Frage offen; in der Realität würden nach Psychotherapie, Traumabearbeitung und Behandlung mit Neuroleptika möglicherweise Aufenthalte in geschlossenen Anstalten oder im Strafvollzug folgen. Markus Matthys gab zu bedenken: «Der Titel Systemsprenger passt eigentlich nicht. Es ist nicht das Kind, welches das System sprengt, sondern das System sprengt sich selber.»

Fragen aus dem Publikum warfen noch einmal ganz neue Aspekte auf, wie zum Beispiel: Was ist der aktuelle Stand der Wissenschaft in Bezug auf «in Beziehung gehen, aber Distanz wahren»? Wie wird das an der HfH doziert? Margaretha Florin fasste zusammen: »Wir lehren dies so, dass man sensibel sein muss, in Nähe und Distanz. Auch vor dem Hintergrund, dass Kinder oft ein starkes Kontrollbedürfnis haben und gerade traumatisierte Kinder dies selber regulieren möchten. Aber was auch stimmt: Man bekommt Benni lieb, und dies braucht man auch für das therapeutische Schaffen.”

Der Event war eine Veranstaltung des Institutes für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung Link zum Institut unter Leitung von Prof. Susanne Amft in Kooperation mit cineworx Link cineworx und dem Arthouse Kino Movie Link Arthouse in Zürich. 

 

Zur Website des Films «Systemsprenger» Link zur Seite mit Infos über den Film

 

Autorinnen: Sabine Hüttche, ergänzt durch Dr. Claudia Schellenberg