Wo sind sie geblieben?

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Film: Easy (Andrea Magnani, Italien/Ukraine 2017)

Film: Easy (Andrea Magnani, Italien/Ukraine 2017)

Das diesjährige ZFF schloss zwar mit einem neuen Besucherrekord ab, was aber der Sache der Behinderung wenig nützt, denn in nur wenigen Filmen traten Personen mit Behinderung auf. Ganz eindeutig im Mittelpunkt stehend war das nur in zwei Filmen der Fall.

In Zlogonje (Rasko Miljkovic, Serbien/Mazedonien 2018) geht es um den schüchternen, 10-jährigen Jovan (Mihajlo Milavic), der eine partielle zerebrale Parese hat. Oft zieht er sich in seine Fantasiewelt zurück, wo er als Superheld brilliert. Im Gegensatz zu einem Traum, in dem er gehen kann, aber von den anderen Jungen gejagt wird, ist Jovan gut integriert in seiner Schulklasse. Das trifft nicht für das neue Mädchen Milica zu, von der sich selbst Jovan abgrenzt. Das zeigt, dass auch andere diskriminiert werden und dass auch jene, die diskriminiert werden, selbst diskriminieren können. Mit Milica lernt Jovan eine Unabhängigkeit, die er vorher nicht kannte, wie z.B. in den Bus steigen. Dabei ist Jovan sehr ambitiös, ein behindertes Kind mit einem starken Willen. Ein gelungener und spannender Kinderfilm, der zeigt, wie Kinder mit Behinderung über sich hinauswachsen können.

Viola (Angela Fontana) und Dasy (Marianna Fontana) in Indivisibili (Edoardo De Angelis, Italien 2016) sind 18 Jahre alt, begnadete Sängerinnen – und an der Hüfte zusammengewachsene siamesische Zwillinge. In ihrem Heimatort werden sie als Glück bringendes Wunder der Natur verehrt und singen auf Festen gegen gutes Geld, ernähren so die ganze Familie. Wichtige Entscheidungen stehen an: eine grosse Karriere oder eine operative Trennung? Die Schwestern sind sich nicht einig, was ein normales, selbstbestimmtes Leben sein könnte. Damit interferiert stark ihr Umfeld, welches jeweils Einzelinteressen hat. Behinderung wird nicht einfacher, selbst wenn man berühmt ist. Man sieht, wie schwierig es sich lebt mit Kindern mit Behinderung und was es bedeutet, wenn diese instrumentalisiert werden. Die Mädchen fühlen sich wie in einem Käfig, zwischen Körper, Familie und ihren Möglichkeiten. Ebenso zeigt sich deren Kampf um Unabhängigkeit von den Eltern, der hier schwieriger zu bewerkstelligen ist.

In zwei Filmen des ZFF kamen hinkende Personen vor. Hinken war ein klassischer Topos für Behinderung, oft verbunden mit weiteren negativen Eigenschaften wie z.B. Kriminalität. Beim ZFF könnten die davon betroffenen nicht unterschiedlicher sein: Königin Anne (Olivia Colman) in The Favourite (Yorgos Lanthimos, Irland/Grossbritannien/USA 2018) ist übergewichtig, gehbehindert, die meiste Zeit im Bett liegend oder in einem Rollstuhl. Sie ist alles andere als eine souveräne Herrscherin. In dieser Satire ist sie mitleiderregend inszeniert, kann das aber aufgrund ihrer Macht weitgehend kaschieren, obwohl ihre Behinderung offensichtlich ist. In Angelo (Markus Schleinzer, Österreich/Luxemburg 2018) hinkt die Tochter der Titelfigur, was sich für sie nachteilig auswirkt, als sie um die Rechte ihres Vaters kämpft. Dabei wird sie mehr wegen ihrer dunklen Hautfarbe diskriminiert als wegen des Hinkens. Insgesamt hat sie nur einen kurzen Auftritt.

Der kurze Auftritt gilt für die nächsten beiden Filme mit Amputationen nicht, obwohl da die Figuren erst gegen Ende bei den Hauptpersonen auftauchen. In dem Western The Sisters Brothers (Jacques Audiard, USA/Frankreich 2018) ist Charlie (Joaquin Phoenix) ein Auftragskiller, der auf den Geschmack von Gold kommt. Wegen seiner Gier wird ihm der Arm verätzt und muss amputiert werden. Gezeigt wird dabei, dass mit einem Arm des Cowboys wichtigste Tätigkeiten, Reiten und Schiessen, wenn überhaupt nur mit allergrösster Mühe möglich sind. Im Übrigen ist diese Beeinträchtigung selten in Western zu sehen. Noch seltener ist Transsexualität Thema, was im Siegerfilm Girl (Lukas Dhont, Belgien/Niederlande 2018) der Fall war. Der 16-jährige Viktor will zu Lara (Viktor Polster) werden und dieser schmerzhafte Prozess wird gezeigt. Es geht so weit, dass Lara, weil es ihr nicht schnell genug geht, sich den Penis amputiert. Dieses wird nur angedeutet und nicht gezeigt. Es kann oder sollte eine Diskussion anstossen, inwieweit Transsexualität als Behinderung aufzufassen ist.

Ebenfalls ist Depression nicht eindeutig, selbst wenn es eine häufige Diagnose in der IV ist. In Easy (Andrea Magnani, Italien/Ukraine 2017) muss der stark übergewichtige, zutiefst depressive, nahezu sprachlose und ständig suizidbereite Isidoro genannt Easy (Nicola Nocella), früher Europameister und Seriensieger im Gokartfahren, einen Sarg von Italien in die Ukraine bringen, wo dann alles schiefgeht, was schiefgehen kann. In dieser Komödie sehen wir, wie schwer es depressiven Personen fällt, die Hürden des Alltags zu überwinden. Ein Film, dessen Bilder so schnell nicht aus dem Kopf verschwinden.

Praktisch alle Filme, die eine Person mit Behinderung porträtierten, taten das in zentralen Rollen. Körperbehinderungen dominieren absolut. Es mag durchaus in dem einen oder anderen, von mir nicht gesehenen Filmen noch Personen mit Behinderung gegeben haben, aber sicher nicht in den Hauptrollen, weder in den Texten noch den Tags wurde Behinderung erwähnt. Zum Schluss soll hinsichtlich Diversity erwähnt werden, dass besonders viele Filme von Regisseurinnen gezeigt wurden und ein spezielles Lob muss die Kinderfilmreihe erhalten.

Autor: Achim Hättich, Dr. phil.