ProToM: Promoting Deaf and Hard of Hearing Children’s Theory of Mind and Emotion Understanding

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Das mit Qualitätssigel gekrönte Europäische Kooperationsprojekt (Erasmus+, Movetia) hat ein evidenzbasiertes Förderinstrument zur Förderung von Theory-of-Mind (ToM) in verschiedenen Laut- und Gebärdensprachen für hörbehinderte Kinder und Jugendliche entwickelt. Damit werden 6- bis12-jährige Lernende in ToM-Kompetenzen und gleichzeitig in sprachlichen Strukturen (Vokabular und Syntax) gefördert, die für die ToM-Kompetenzen notwendig sind. Es ist in unterschiedlichen Beschulungssettings einsetzbar (Zentren für Hören und Sprache, Integrationsklassen) und hat hilfreiche Ansätze für die Arbeit weiterer Berufsgruppen (Sozialpädagogik, Psychologie, Logopädietherapie und Familienförderung).

Projektleitung

Mireille Audeoud Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Researcher

Fakten

  • Dauer
    11.2018
    07.2022
  • Neue Projektnummer
    4_40

Projektteam

  • Claudia Becker
  • Tamara Bangerter
  • Katerina Antonopoulou
  • Kika Hadjikakou

Ausgangslage

Gehörlose und schwerhörige Kinder laufen besonders Gefahr, in der Entwicklung von Theory-of-Mind-Kompetenzen und Emotionswissen im Vergleich zu hörenden Gleichaltrigen viele Jahre zurückzuliegen. Die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und die Ursachen für die eigenen Emotionen und Überzeugungen und die anderer zu verstehen, ist eine zentrale Voraussetzung zum Beispiel für Selbstregulierung, Konfliktlösungsfähigkeit und kritisches Denken. Entwicklungsverzögerungen in der Theory of Mind (ToM) und Emotionswissen können daher die soziale Integration einschränken.

Dieses Risiko gilt sowohl für lautsprachlich als auch für gebärdensprachlich kommunizierende Kinder. Der Spracherwerb (gesprochene Sprache und/oder Gebärdensprache) kann bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern erschwert sein und erfolgt unter Umständen verzögert. Gehörlose und schwerhörige Kinder durchlaufen zwar die gleichen Entwicklungsstufen wie hörende Kinder, allerdings kann das Entwicklungstempo bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern wesentlich langsamer sein (Wellman, 2018; Becker et al., 2018). Damit kann auch die aktive und passive Teilnahme an sprachlichen Interaktionen eingeschränkt sein, Kompetenzen in mentalen Konzepten und Grammatik verzögert sein.

Es ist von enormer Bedeutung, Präventions- und Interventionsmassnahmen für diese sozial-kognitiven Fähigkeiten in Frühförderung, Kindergarten und Schule zu implementieren und gleichzeitig – anders als bei bestehenden Förderprogrammen aus dem Bereich Autismusspektrumstörung – auch die entsprechenden Sprachkompetenzen in Laut- und/oder Gebärdensprachen trainiert werden. Glücklicherweise hat die Forschung gezeigt (Sprung et al. 2015 und Hofmann et al. 2016.), dass richtig konzipierte Interventionsprogramme für ToM bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern trainieren können.

Vorgehen

Das Förderprogramm DIE GEDANKENLESER wurde strikt theoriegeleitet entwickelt, indem es an die Entwicklungsschritte von Theory of Mind und dem Emotionswissen nach Peterson, Wellman & Liu (2005) und Pons, Harris, & de Rosnay (2004) anknüpft. Die einzelnen Entwicklungsschritte werden in neun verschiedenen Modulen trainiert, die modular erarbeitet werden können.

Das Programm wurde gemeinsam von hörenden sowie gehörlosen und schwerhörigen Forscher:innen und Lehrer:innen und Pädagog:innen entwickelt, zudem wurde auf kulturelle Diversität geachtet.

Alle Materialien können unter Berücksichtigung der Copyright-Bedingungen kostenlos von unserer Webseite heruntergeladen und verwendet, sowie individuell an die Bedürfnisse der jeweiligen Kinder und Jugendlichen angepasst werden.

Das Programm wurde in zwei Praxisphasen mit 116 Kindern und Jugendlichen in der Schweiz, Deutschland, Griechenland und Zypern umfangreich erprobt und seine Wirksamkeit mit Hilfe von zwei Tests überprüft (Pre-post-Test Design mit Interventions- und Kontrollgruppe; «Theory of Mind Task Test» von Peterson et al., 2005 adaptiert in Gebärdensprachen und der „Test of Emotion Comprehension” von Pons, Harris und De Rosnay, 2004). Die Erprobungsphasen fanden in Zentren für Hören und Sprache und Regelschulen während ca. 10 Wochen statt und wurden von gehörlosen und hörenden Lehrer:innen und Pädagog:innen durchgeführt. Die Übungen wurden in Klassen, Kleingruppen und in Einzelsettings ausprobiert. Die Ergebnisse und die detaillierten Rückmeldungen (Evaluationsjournale nach jeder durchgeführten Lektion, Fokusgruppeninterviews) der Lehrer:innen flossen in die Überarbeitung des Trainingsprogramms und in die Entwicklung einer so genannten Toolbox (Informationen zu ToM und Hörbehinderung, Hinweise zur Durchführung in Schulen, Informationen zu Laut- und Gebärdensprache, Familienarbeit, Forschung) ein.

Ergebnisse

Grundsätzlich muss bestätigt werden, dass die Schüler:innen der vorliegenden Stichprobe mehrheitlich eine Entwicklungsverzögerung in ToM-Kompetenzen gegenüber hörenden Peers zeigen.

Der Pre-post-Test der ersten Erprobungsphase hat ergeben, dass die Interventionsgruppe ihre Kompetenzen sowohl im Bereich der ToM als auch des Emotionswissens mehr gesteigert haben als die Kontrollgruppe. Dieser Unterschied ist aber statistisch nicht signifikant. Für ToM-Kompetenzen zeigt sich zwar ein signifikanter Haupteffekt der Zeit (F(1, 103) = 45.656, p < .001, η² = .307), jedoch kein Gruppeneffekt (F(1, 103) = 1.398, p = .240, η² = .013), ähnlich für Emotionswissen. Detaillierte Analysen zeigen allerdings, dass insbesondere Schüler:innen mit sehr geringen kommunikativen Kompetenzen eine signifikante Verbesserung in der Entwicklung von ToM-Kompetenzen im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigen (F(1, 9) = 11.375, p = .008, partielles η² = .558).
Die Kinder in der zweiten Erprobungsphase konnten ebenfalls ihre Leistungen in beiden Bereichen verbessern. Da die zweite Erprobungsphase bedingt durch die Schliessungen der Schulen in der Covid-19-Pandemie bei etlichen Kindern für längere Zeit unterbrochen werden mussten, müssen die quantitativen Daten der zweiten Erprobungsphase allerdings mit Vorsicht behandelt werden.

Die Auswertung der Evaluationsjournale hat insbesondere zu folgenden Erkenntnissen geführt:

  • Der modulare Aufbau des Trainings, der kleinschrittige Aufbau, seine Differenziertheit und Flexibilität ermöglichen es, der Heterogenität der Schüler:innen gerecht zu werden. Gleichzeitig benötigen Lehrer:innen zu Beginn des Trainingsprogramms Unterstützung, um sich im Training gut orientieren zu können.
  • Die Visualisierung und Kontextualisierung der Lerninhalte für gehörlose und schwerhörige Kinder wurde als besonders wichtig erachtet. Aus diesem Grund wurden zu den meisten Geschichten Bilder angefertigt, die mit und ohne Text im Unterricht eingesetzt werden können. Das Konzept der Gedankenblasen hat sich dabei besonders bewährt und war vor allem auch für Kinder mit geringen Sprachkompetenzen eine bildhafte Lernhilfe.
  • Die Mehrsprachigkeit des Trainingsprogramms wird von den Lehrer:innen wertgeschätzt, um der unterschiedlichen sprachlichen Orientierung der Kinder gerecht werden zu können. Gleichzeitig können Kompetenzen in Laut- und/oder Gebärdensprachen bei den Kindern aufgebaut werden. Nach der ersten Erprobungsphase wurden auf Wunsch der Lehrer:innen deshalb weitere gebärdensprachliche Videos ergänzt. Die Videos wurden zum einen im Unterricht selbst benutzt. Zum anderen haben Lehrer:innen sie als Erzählvorlage verwendet, um die eigenen gebärdensprachlichen Kompetenzen zu erweitern.
  • Die Lehrer:innen gaben an, dass sie die sozial-kognitiven und emotionalen Kompetenzen ihrer Schüler:innen a) nach den Lehrpersonenschulung und b) nach der Durchführung des Trainingsprogramms im Unterricht besser einschätzen können und c) sensibler für Aspekte der ToM und des Emotionswissens im Alltag geworden sind.
  • Die qualitativen Fokusgruppendiskussionen nach beiden Erprobungsphasen haben ergeben, dass aus der Sicht der Lehrpersonen es Kindern gelingt, die neu erworbenen Kompetenzen in ihren Alltag zu transferieren. Das wurde sowohl im freien Spiel beobachtet, als auch z. B. bei Streitschlichtungen, in denen die Schüler:innen die eigenen Beweggründe und Verhalten und das anderer Menschen besser reflektieren konnten.
  • Folgendes wurde als besonders hilfreich erachtet, um DIE GEDANKENLESER in Schulen zu implementieren: Schulinterne/externe Schulungen, Bildung von Muliplikatorenteams innerhalb eines Kollegiums, Erstellung von Unterrichtskoffern mit den Materialien, die von mehreren Lehrkräften genutzt werden können, schulweite Festlegung eines festen zeitlichen Rhythmus (pro Halbjahr/Jahr) zur systematischen Durchführung des Trainingsprogramms.

Diskussion und Fazit für die Praxis

Das Ergebnis, dass gehörlose und schwerhörige Kinder und Jugendliche in ihrer ToM-Entwicklung hinterherhinken, zeigt erneut, dass das vorliegende Förderprogramm notwendig ist. Die Spezialisierung auf Hörbehinderung (durch Visualisierungen, Sprachmodul, Sprachwahlmöglichkeiten Gebärdensprache und Schriftsprache) unterstützt wohl vor allem die Gruppe der gehörlosen und schwerhörigen Kinder mit sehr wenig Sprachkompetenzen – es wurde nicht getestet, trotzdem ist anzunehmen, dass vor allem diese Kinder mit ToM-Förderprogrammen beispielsweise für Autismusspektrumstörung nicht in gleichem Masse profitieren würden, diese sprachsensible Spezialisierung also sinnvoll ist.
Weiter muss festgehalten werden, dass durch das Material im Förderprogramm nochmals ein Vorstoss ermöglicht wird, die immer noch sehr selten vorhandenen bilingual-bimodalen Unterrichtsmaterialien (Gebärdensprachvideos, Bildmaterialien, Gebärdensprachfotos) überhaupt zu haben und individualisierend anpassen zu können (Worddateien, nicht nur PDF) und nicht für jede Lektion selber kreieren zu müssen; das ist das, was Lehrpersonen brauchen und haben wollen.

Es ist ein sehr umfangreiches Förderprogramm geworden, die Orientierung kann trotz Manual etwas aufwendig sein. Die Lösung dafür wurde schon gefunden: Es können Workshops als Weiterbildungsmassnahmen gebucht werden.

Literatur

  • Becker, C., Hansen, M. & Barbeito Rey-Geissler, P. (2018). Narrative Kompetenzen hörgeschädigter Kinder. Das Zeichen, 108, 90-105.
  • Hofmann, S. G., Doan, S. N., Sprung, M., Wilson, A., Ebesutani, C., Andrews, L. A., Curtiss, J. & Harris, P. L. (2016). Training children's theory-of-mind: A meta-analysis of controlled studies. Cognition, 150, 200–212.
  • Peterson, C. C., Wellman, H. M. & Liu, D. (2005): Steps in theory-of-mind development for children with deafness or autism. Child Development, 76 (2), 502–517.
  • Pons, F., Harris, P. L. & De Rosnay, M. (2004). Emotion comprehension between 3 and 11 years: Developmental periods and hierarchical organization. European Journal of Developmental Psychology, 1(2), 127-152. http://dx.doi.org/10.1080/17405620344000022.
  • Sprung, M., Münch, H. M., Harris, P.L., Ebesutani, C. & Hofmann, S. G. (2015). Children’s emotion understanding: A meta-analysis of training studies. Developmental Review, 37, 41-65.
  • Wellmann, H. M. (2018). Theory of mind: The state of the art. European Journal of Developmental Psychology, 15(6), 728-755.

Publikationen

  • Becker, C., Audeoud, M., Antonopoulou, K., & Hadjikakou, K.
    "The Mind Readers" – An evidence-based training programme to promote deaf and hard of hearing childrens theory of mind and emotion understanding in spoken and sign languages
    [Konferenzvortrag].
    ICED, International Congress on the Education of the Deaf,
    Brisbane, Australien (digital).
  • Becker, C., Audeoud, M., Antonopoulou, K., & Hadjikakou, K.
    THE MIND READERS - an innovative training to promote deaf and hard of hearing children's theory of mind and the associated skills in spoken and sign languages
    [Konferenzvortrag].
    ICSLA4, International Conference on Sign Language Acquisition,
    digital.
  • Audeoud, M.
    Die Gedankenleser. Theory of Mind und Einstieg in die Praxis.
    Workshop zur Implementierung des Programms am ZGSZ,
    Zürich, Schweiz.
  • Audeoud, M.
    Die Gedankenleser. Ein bimodal-bilinguales Trainingsprogramm für Theroy of Mind für schwerhörige und gehörlose Kinder.
    Präsentation und Workshop an der Fachsitzung gesamte Lehrerschaft ZGSZ,
    Zürich, Schweiz.
  • Audeoud, M., & Bangerter, T.
    ProToM.
    Präsentation am Netzwerktreffen DSGS,
    digital.
  • Audeoud, M., & Becker, C.
    Die Gedankenleser. Ein neues bimodal-bilinguales Trainingsprogramm für Theory of Mind für schwerhörige und gehörlose Kinder.
    Präsentationen und Workshops am Weiterbildungstag für Lehrer:innen für Hörbeeinträchtigte,
    Wien, Österreich (digital).
  • Audeoud, M., & Becker, C.
    Die Gedankenleser.
    Workshop an der BOTA, Bodenseeländertagung, HfH,
    Zürich, Schweiz.
  • Becker, C., & Audeoud, M.
    DIE GEDANKENLESER; Ein bimodal-bilinguales Trainingsprogramm für Theory of Mind für schwerhörige und gehörlose Kinder.
    Präsentation an der 2. Digitalen Konferenz für Schulpsychologen für Hörbeeinträchtigte,
    Heidelberg, Deutschland (digital).
  • Becker, C., Audeoud, M., & Schwartz, F.
    Die Gedankenleser.
    Vortrag und Workshops an der Tagung "Hexe meets Gedankenleser" der PH Heidelberg,
    Heidelberg, Deutschland.
  • Audeoud, M.
    Die Gedankenleser.
    Forschungskolloquium, Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik,
    Zürich, Schweiz.