Mit dem Eintritt sollte bereits der Austritt mitgedacht werden

Interview

Philippe Dietiker ist Leiter der Abteilung Besondere Förderung im Volksschulamt des Kantons Zürich. Steff Aellig und Dominik Gyseler führten mit ihm ein Gespräch über Kleinklassen und deren Zukunft.

Kontakt

Steff Aellig Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Consultant

Dominik Gyseler Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Lecturer

Die HfH-Wissenschaftskommunikation (WiKo) führte mit Phillippe Dietiker (PD) 2019 ein Gespräch über Kleinklassen, im Rahmen des Schwerpunktthemas Integration.

WiKo: Philippe Dietiker, wie viele Kleinklassen gibt es heute noch im Kanton Zürich?

PD: Aktuell besuchen 180 Schülerinnen und Schüler eine der 12 Kleinklassen im Kanton Zürich. Also etwa jedes tausendste Kind.

WiKo: Wie viele waren es in den Spitzenzeiten?

PD: Vor fünfzehn Jahren besuchten noch rund 2000 Schülerinnen und Schüler eine Kleinklasse.

WiKo: In dieser Zeit ist die Anzahl der Kinder also um den Faktor 10 gesenkt worden. Was zeigt das?

PD: Es zeigt zunächst einmal, dass die Gesetze umgesetzt wurden: das Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 und in der Folge das Volksschulgesetz im Kanton Zürich von 2005. Entsprechend dieser gesetzlichen Vorgabe, die Schülerinnen und Schüler wenn möglich in der Regelklasse zu unterrichten, hat man die Zahlen massiv reduziert.

WiKo: Wurde das Ziel erreicht?

PD: Man hat damals keine bestimmte Zahl als Obergrenze festgelegt. Aber es gab einen Konsens in Bezug auf die Zielrichtung: Kinder sollen wann immer möglich integrativ unterrichtet werden.

WiKo: Sind wir auf einem guten Weg?

PD: Man könnte ja sagen: 180 Kinder sind immer noch zu viel. Sie haben vorher gefragt, was diese massive Reduktion der Zahlen zeige. Sie zeigt für mich in erster Linie, dass die Regelschule in dieser Zeit eine enorme Integrationsleistung vollbracht hat. Ich muss ganz offen gestehen, dass ich vor zehn Jahren nicht gedacht hätte, dass das in dieser Grössenordnung möglich sein würde.

WiKo: Warum nicht?

PD: Weil die Regelschule dafür ihr Kerngeschäft, also ihren Unterricht, umstellen musste. Eine solche Umstellung in Richtung einer integrativen Förderung geht ja nicht en passant, sondern ist nur mit vollem Einsatz aller Beteiligten möglich – der Klassenlehrpersonen, der Schulischen Heilpädagoginnen, der Eltern, der Schulleiterinnen, der Therapeuten und allen anderen Fachpersonen. Man hat ja dann auch in den Medien immer wieder über einzelne Lehrpersonen berichtet, die sehr stark gefordert sind, und zum Teil auch überfordert. Nicht alle Lehrpersonen betrachten die schulische Integration als Erfolgsgeschichte. Wir kennen dieses Phänomen auch aus der Bildungspolitik, wo in regelmässigen Abständen der Ruf «Zurück zur Kleinklasse!» zu vernehmen ist. Dort wie auch in der Praxis nehme ich diese Stimmen zwar als laut, aber nicht als mehrheitsfähig wahr.

WiKo: Also nur vernachlässigbare Einzelfälle?

PD: Ich nehme diese Aussagen selbstverständlich ernst. Ob mehr Kleinklassen die geeignete Lösung für das Problem wären, bezweifle ich allerdings. Ich habe den Eindruck, dass der Blick zurück manchmal nostalgisch eingefärbt ist. Auch Kleinklassen waren nicht einfach die ideale Lösung aller Probleme. Das wird heute gerne ausgeblendet.

WiKo: Wie meinen Sie das?

PD: Denken Sie an Kleinklassen, die Kinder aus mehreren Gemeinden hatten. Diese Schülerinnen und Schüler waren sozial nicht mehr eingebettet und hatten so eine Art Freipass für auffälliges Verhalten. Das war eine riesige tägliche Herausforderung für eine Kleinklassenlehrperson, die weitgehend auf sich allein gestellt war. Immer wieder mussten auch Kleinklassen geschlossen werden, weil sie schlicht nicht führbar waren. Zudem prägten die Kleinklassen eine delegative Kultur, die Klassen waren immer gefüllt und der Bedarf wuchs ständig.

WiKo: Wo sehen Sie grundsätzlich die Probleme von Kleinklassen?

PD: Die Kinder werden als «jene aus der Kleinklasse» abgestempelt und stigmatisiert. Für immer. Dieses Etikett beeinträchtigt später deshalb dann auch ihre Chancen auf dem Berufsmarkt, das konnte man in Studien gut zeigen. Weiter wird das Leistungsniveau der Kleinklasse nach unten nivelliert, weil die leistungsmässigen Zugpferde fehlen, und dadurch eine Art Schonraum entsteht. Und schliesslich bildet sich nicht selten eine Kultur der Ghettoisierung aus, in der aggressives und verweigerndes Verhalten zum guten Ton gehört.

WiKo: Nun gibt es aber aktuell Gemeinden, die mit Kleinklassen sehr gute Erfahrungen machen. In Wädenswil zum Beispiel scheint es zu funktionieren, wie wir in einer Reportage feststellen konnten.

PD: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Wädenswil hat seine Kleinklasse konzeptuell sorgfältig eingebettet. Trotzdem muss man diesen Beispielen die Forschung gegenüberstellen, die insgesamt ein anderes Bild zeichnet. So zeigen Langzeituntersuchungen, dass eine integrative Förderung für die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler vorteilhafter ist als eine separative Förderung.

WiKo: Ein häufiges Argument ist, dass Kleinkassen die Regelklassen entlasten.

PD: Wir stellen etwas anderes fest: Wenn der schwierigste Schüler weg ist, rückt häufig einfach der nächste nach. Eine Art Dominoeffekt. Und man darf nicht vergessen, dass Kleinklassen ein Preisschild haben.

WiKo: Was heisst das genau?

PD: Wir haben das für ein Schulhaus, das gerne wieder eine Kleinklasse eingeführt hätte, mal durchgerechnet und das Lehrerteam vor folgende Wahl gestellt: «Nehmen wir an, die Hälfte von euch könnte jemand in diese Kleinklassen schicken. Aus jeder zweiten Klasse also einen Schüler – das ist schon viel. Im Gegenzug müssten aber alle von euch zwei von vier IF-Stunden abgeben. Und jetzt müsst ihr abwägen: Wollt ihr das?» Das hat die Gruppe, die keinen Schüler abgeben kann und gleichzeitig auf zwei IF-Lektionen verzichten muss, natürlich nicht mehr mittragen wollen.

WiKo: Entlasten Kleinklassen die Sonderschulen?

PD: Auch das nicht. Wir hatten früher die These, eine gut geführte Kleinklasse sei eine Art wohnortsnahe Form der Sonderschulung. Für das Kind wäre das eine Chance: Es geht immer noch im selben Dorf zur Schule, hat den gleichen Schulweg und im Quartier die alten Kollegen. Aber solche Gemeinden hatten trotzdem keine tieferen Sonderschulquoten.

WiKo: Ihr Fazit?

PD: Das Modell der Separation hat gewichtige Nachteile. In der Medizin würde man ein Medikament mit so einem hohen Risiko an Nebenwirkungen gar nicht erst zulassen.

WiKo: Was ist Ihre Lösung?

PD: Man muss unterscheiden. Es gibt ja tatsächlich Kinder, die in einem separativen Setting bessere Fortschritte machen und sich wohler fühlen. Die brauchen eine Sonderschulung. Das ist aber nur ein kleiner Teil.

WiKo: Nehmen wir zum Beispiel den impulsiven, aggressiven Knaben, der keine Sicherheit hat und sowohl die Lehrpersonen als auch die Mitschüler ständig an ihre Grenzen bringt. Da reichen drei IF-Lektionen pro Woche vermutlich nicht, um eine tragfähige Beziehung herzustellen.

PD: Das stimmt. Als ehemaliger Leiter einer Sonderschule kenne ich solche Schüler mit gravierenden Schwierigkeiten gut. Da sind häufig der Leidensdruck und die Komplexität sehr hoch. Hier reden wir tatsächlich von einer dauerhaften Lösung in einer Sonderschulung.

WiKo: Und welche Massnahmen sehen Sie im Rahmen der Regelschule?

PD: Hier plädiere ich für eine punktuelle Separation im Rahmen einer integrativen Förderung. Wenn die Re-Integration das Ziel ist, sind Entlastungsangebote, die flexibel angesetzt sind, sinnvoll und erfolgsversprechend. Damit meine ich Konzepte wie Schulinseln oder Förderzentren – sofern sie eine integrative Ausrichtung haben. So können Lehrpersonen in Phasen entlastet werden, in denen dies dringend notwendig ist. Aber nochmals: Entlastungsangebote sollen immer auf die Re-Integration ausgerichtet sein. Mit dem Eintritt sollte bereits der Austritt mitgedacht werden.

WiKo: Konkret?

PD: Man müsste bei der Anmeldung bereits beschreiben: Was sind die Förderschwerpunkte, damit eine Re-Integration möglich ist? Welche Ziele müssten erreicht sein? In welchem Zeithorizont?

WiKo: Solche Angebote sind dann keine Sackgasse mehr, sondern eine Schlaufe. Diese Grundidee findet man heute aber auch in der Kleinklasse – Wädenswil ist ein aktuelles Beispiel.

PD: Diese Form der Weiterentwicklung von Kleinklassen, wenn man schon welche führen will, begrüsse ich. Nur wird durch den Klassenwechsel eben trotzdem ein eher statisches Angebot signalisiert. Grundsätzlich kann es durchaus funktionieren, gerade in grösseren Gemeinden wie Wädenswil. Kleinklassen haben sich in den letzten Jahren ja auch weiterentwickelt. Manchmal sind heutige Kleinklassen gar nicht mehr weit weg von Schulinseln oder Förderzentren.

WiKo: Wird es in zehn Jahren noch Kleinklassen geben im Kanton Zürich?

PD: Wenn Kleinklassen so verstanden werden wie damals, dann eher nicht. Das wird durch die Sonderschulung ersetzt werden. Kleinklassen in einer weiterentwickelten Form kann ich mir jedoch vorstellen. Ich würde aber nicht mehr das Label «Kleinklasse» verwenden, weil dadurch wieder der alte Film abgespult wird.