Stark, stärker, Stronger: Behinderung zwischen Heldentum und modernster Technik

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Jeff Bauman (Jake Gyllenhaal) hat es nicht leicht im Leben, was der Film direkt klarmacht: er wohnt bei seiner alkoholkranken Mutter Patty (Miranda Richardson) und hat sich vor kurzem zum dritten Mal von seiner Freundin Erin Hurley (Tatiana Maslany) getrennt. Ganz anders aufgestellt ist Erin: sie will den Boston Marathon laufen. Jeff möchte Erin zurückgewinnen und unterstützt sie, indem er sich liebevoll und vielfältig für sie engagiert; ebenso steht er beim Marathon an der Ziellinie, um sie anzufeuern. Kurz danach explodiert in unmittelbarer Umgebung eine Bombe. Im Krankenhaus erwacht Jeff und erfährt von den Ärzten, dass es sich um einen Anschlag handelte und man ihm beide Beine unterhalb der Knie amputieren muss.

«Stronger» zeigt insbesondere, dass Behinderung stets im sozialen Umfeld stattfindet. Und dass das genauso stützend wie auch belastend sein kann. Erin weicht Jeff nicht von der Seite, beschwert sich aber über seine Unzuverlässigkeit. Ihr fehlt das Verständnis für die Indisponiertheit und den Missmut sowie Zweifel an sich selbst, welche Menschen mit Behinderung häufig empfinden. Dies verbittert Jeff, was visuell eindrücklich und nachvollziehbar dargestellt wird. Daraufhin passt Erin sich an, kündigt den Job und kümmert sich aufopfernd um Jeff. Ausführlich ist zu sehen, was eine Person mit Behinderung braucht und wie mit ihr umzugehen ist. Dazu gehört auch Unangenehmes (Toilette) oder Tabuisiertes (Sexualität), was aber für behinderte Personen Realität darstellt. Jeff‘s Mutter reagiert hingegen weitgehend negativ, verflucht ihn, ist zunehmend anderer Meinung und streitet häufig. Darüber hinaus kümmert sie sich wenig um ihren Sohn. Hilfe kommt nicht immer von der Person, von der man es am ehesten erwartet.

Einen weiteren starken Fokus legt «Stronger» auf die schmerzhaften Rehabilitationsmassnahmen, bei denen Jeff das Laufen mit Beinprothesen erlernen muss. Hier wird auf die Anwendung moderner Technik eingegangen, im Dienste von Menschen mit Behinderung. Am Ende unternimmt Jeff Gehversuche mit den Prothesen, die glücken und eine fast vollständige Inklusion bewirken. Nicht ausser Acht gelassen wird, dass dies mühselige Anpassungen voraussetzt. Hier überzeugt der Film durch Realismus, macht jedoch ebenfalls Mut.

Jeff steigt zum nationalen Helden empor. Patty ist unglaublich stolz auf ihren berühmten Sohn und kann nicht genug davon bekommen. Überall wird ihm zugejubelt, Journalisten belagern ihn, beim Eishockeyspiel gibt es eine grosse Solidarität. Der instrumentalisierte Jeff ist jedoch irritiert und alles wird ihm zu viel. Unfreiwillig ist er ein Symbol des Widerstandes gegen den Terrorismus geworden. Im Film wird es so dargestellt, dass Jeff nicht wegen seiner Behinderung, sondern trotz seiner Behinderung geliebt wird. Dieser Teil ist am wenigsten auf die Realität übertragbar und für die Menschen mit Behinderung auch nicht nachhaltig, da (glücklicherweise) die wenigsten Behinderungen durch äussere Gewalt mit grosser Tragweite entstehen, wie es das Boston Attentat war.

Gyllenhaal überzeugt mit einer oscarverdächtigen Performance und bringt alle Phasen der Anpassung nachvollziehbar rüber. Dabei wird auf die physischen Merkmale der Behinderung fokussiert und weniger auf den psychischen Zustand. Aber so gut die schauspielerische Leistung von Gyllenhaal auch ist, kam von Behindertenverbänden die Kritik, dass für seine Rolle kein Schauspieler mit Behinderung eingesetzt wurde. Das offenbart ein gewisses Dilemma: eine unbekannte Person mit Behinderung und ein finanzieller Misserfolg oder eine Starpersönlichkeit, die über den Erfolg einer breiten Masse das Thema Behinderung näherbringt? Freilich ist die Bilanz durchzogen: für Gyllenhaal war es einer seiner am wenigsten erfolgreichen Filme, für den nicht so bekannten Regisseur war es sein fünfterfolgreichster Film, die Anzahl der bespielten Kinos in den USA war jedoch unterdurchschnittlich. Es mag viele Gründe dafür geben - «Stronger» ist nicht die typische Heldengeschichte -, doch was nicht ganz überzeugt, sind fehlende Reflexionen über das Drumherum. Obwohl der echte Bauman dem Film eine hohe Authentizität bescheinigte, einschliesslich der Darstellung von Gyllenhaal, stellt sich in diesen Biopics die Frage, wie viel wahr und wie viel erdichtet ist. Das sollte allerdings nicht vom Schauwert abhalten. Jener Film ist überschwänglich, manchmal mitreissend inszeniert und zeigt zudem die schwierige Anpassung, wenn jemand mitten aus dem Leben eine Behinderung erfährt. «Stronger» gibt Personen mit Behinderung ein gutes Beispiel, dass mittels moderner Technik ein zufriedenstellendes Leben möglich ist, auch ohne dass man eine Heldin oder ein Held sein muss.

Autor: Dr. Achim Hättich