Plaudern über Kinder: Das hilft!

Reportage

Für den Erfolg in schwierigen Situationen mit Kindern und Jugendlichen braucht es beides: Auf der individuellen Handlungsebene eine gefüllte «Werkzeugbox», und auf der Ebene der ganzen Schule eine gute Kooperationskultur. Überraschend ist, dass Schulteams auch dann tragfähig sein können, wenn sie einfach nur über Kinder plaudern.

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Steff Aellig Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Consultant

Dominik Gyseler Titel Dr. phil.

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Senior Lecturer

Befunde zeigen: In schwierigen Unterrichtssituationen reagieren Lehrpersonen oft disziplinierend und weniger pädagogisch. Das hilft zwar beim kurzfristigen Wiederherstellen der Unterrichtsordnung zum Abwickeln der Lektion. Aber langfristig kann es die Beziehung und die positive Motivation beeinträchtigen. Und damit auch den Lernerfolg. Damit herausfordernde Situationen pädagogisch – und damit nachhaltig wirksam – bewältigt werden können, brauchen Lehrpersonen spezifische Kompetenzen. Dies müssen gezielt aufgebaut und gefestigt werden. Dazu hat das HfH-Autorenteam Concita Filippini und Daniel Barth für ihre Publikation «KASUS» fünf herausfordernde Szenen nachspielen lassen. Diese Video-Geschichten liefern das Material, damit Lehrpersonen und Schulteams ihren Umgang mit auffälligem Verhalten reflektieren und professionalisieren können. Im kurzen Videobeispiel unten kommt Uran, ein Drittklässler, zu spät in den Unterricht und erzählt der Klasse, er habe zuhause einen riesigen Hecht in der Badewanne. Das ist aber noch längst nicht alles, was Uran anstellt. Mit seinem abweichenden Verhalten fordert Uran seine Umwelt arg heraus.

Video-Szene aus «KASUS – Kurzfilme über herausfordernde Situationen in der Schule» (Barth & Filippini, 2016)

Die «Methode», welche das Autorenteam Concita Filippini und Daniel Barth propagiert, ist relativ schnell erklärt, braucht aber für den Einsatz in der Praxis viel Übung. Erstens muss man nach dem Bedürfnis forschen, das hinter einem unerwünschten Verhalten steckt. Was ist der Grund, dass Uran mit fantastischen Geschichten auftrumpfen muss, wie etwa jener vom Hecht in der Badewanne? Zweitens muss man versuchen, die Situation in Schule, Freizeit oder Familie so zu verändern, dass eine Schülerin oder ein Schüler dieses Bedürfnis befriedigen kann, ohne ein normabweichendes Verhalten zeigen zu müssen. Urans Fischergeschichten zum Beispiel könnten zunächst gesammelt und aufgeschrieben werden. Danach dienten sie als Ausgangspunkt für Erkundungen in der Welt der Fische. Damit erhielte er die soziale Anerkennung, nach der er sich so sehnt.

«Im Umgang mit Verhaltensproblemen gibt es keine einfachen Rezepte», relativiert Daniel Barth, «denn Verhalten hängt nicht nur mit dem «schwierigen» Schüler zusammen, sondern genauso mit der Umwelt: Familie, Freunde, Klasse und Lehrpersonen.» Und diese Erkenntnis stelle sich bei Lehrpersonen nicht automatisch ein, sondern müsse trainiert werden, ist Barth überzeugt.

Im Gespräch mit Steff Aellig erzählt HfH-Dozent Daniel Barth, was der Hintergrund von «KASUS» ist, und welche Erfahrungen er in der Aus- und Weiterbildung damit macht.

Interview mit Daniel Barth über den Hintergrund von «KASUS»

Transkript Interview mit Daniel Barth über den Hintergrund von «KASUS»

Steff Aellig: Ihr habt mit «KASUS» fünf Kurzfilme zur Verfügung gestellt, die herausfordernde Situationen szenisch abbilden. Was war die Absicht, die hinter dem Projekt stand?

Daniel Barth: Wir wollten mit diesen fünf Filmen Übungsmaterial herstellen, um Kompetenzen bei unseren Studierenden, bei sich Weiterbildenden einzuüben im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern.

Aellig: Bei diesen Kompetenzen, was sind so Schlüsselfaktoren, worauf kommt es an, dass eine Lehrperson solches Verhalten gut bewältigen kann?

Barth: Wir gehen davon aus, dass jemand, der ein abweichendes Verhalten, eine Verhaltensauffälligkeit verstehen kann, dass diese Pädagogin oder dieser Pädagoge besser damit umgehen kann. Es braucht also ein Denken über diese Verhaltensauffälligkeiten. Und wir haben versucht, verschiedene theoretische Perspektiven, die man entwickeln kann in Bezug auf Verhaltensauffälligkeiten, in diesen «KASUS»-Filmen abzubilden.

Aellig: Das heisst, eine bestimmte Situation kann immer von verschiedenen Blickwinkeln her betrachtet und interpretiert werden, ist das euer Hintergrund?

Barth: Genau, also abweichendes Verhalten kann ganz unterschiedlich verstanden werden, je nachdem, welche Perspektive man darauf wirft.

Aellig: Ihr geht ja davon aus, dass diese Kompetenzen nicht ganz so einfach intuitiv zu erlernen sind, deshalb dieses Übungsmaterial. Das ist vor ein paar Jahren erschienen, was habt ihr in der Weiterbildung, in der Schulung von Teams für Erfahrungen gemacht?

Barth: Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das spontane Verständnis der Studierenden meist eine «essenzialisierende» Sichtweise ist, das heisst, Verhaltensauffälligkeit wird als Merkmal des einzelnen Schülers verstanden…

Aellig: …Er ist aggressiv, er ist unaufmerksam, er ist bocki g, so?

Barth: Genau so. Und wir tendieren, also Concita Filippini und ich tendieren dazu, eine «interaktionistische» Sichtweise zu vermitteln, das heisst, die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten als Produkt von Interaktionen, es entsteht in Beziehung zu anderen Schülern zu bestimmten Pädagoginnen, Pädagogen, zu einer sozialen Umwelt.

Aellig: Und das scheint sich nicht automatisch einzustellen bei Lehrerpersonen, sondern muss bewusst trainiert und reflektiert werden?

Barth: Das ist genau so, ja. Das sind unsere Erfahrungen in der Arbeit mit diesen Filmen

Seit dem Erscheinen von «KASUS» hat Daniel Barth weiterführende Forschung durchgeführt. Zum Beispiel im Auftrag des Kantons Aargau. Dort standen Bildungsverantwortliche vor einer bisher ungeklärten Frage: Womit hängen die grossen Unterschiede zwischen den Schulen im Umgang mit «schwierigen» Schülern zusammen? Urs Wilhelm vom Departement für Bildung Kultur und Sport (BKS) des Kantons Aargau meint dazu: «Interessanterweise konnten äussere Mermale von Schulen – also zum Beispiel Urbanität, Grösse oder auch soziale Belastung des Wohnorts oder Quartiers – die Unterschiede zwischen den Schulen nur unzureichend erklären. Deshalb beauftragten wir das Forscherteam damit, in der Tiefenstruktur von Schulteams zu sondieren und nach Antworten zu suchen.» Auf der Suche nach diesen «Tragfähigkeits-Faktoren» hat Daniel Barth zusammen mit Reto Luder und André Kunz, beides Professoren an der PHZH, mehr als zehn Schulteams untersucht. «Wir vom Kanton wissen nicht, welches diese Schulen waren,» erzählt Urs Wilhelm, «dadurch wollten wir sicherstellen, dass die Schulen den Forschern offen und unbefangen Einblick in ihre Teamkultur gaben.» Barth und seine Forscherkollegen bringen Überraschendes zutage: «Bei der Bewältigung von schwierigem Schülerverhalten spielen die individuellen Handlungskompetenzen einer Lehrperson sehr wohl eine Rolle», so Barth, «aber ebenso wichtig ist, wie man im ganzen Schulteam mit belastenden Schülerinnen und Schülern umgeht.» Kooperation, Kommunikation und gegenseitige Unterstützung – diese Team-Kompetenzen sind es, welche die Unterschiede in der Tragfähigkeit von Schulen erklären. In dieser Deutlichkeit haben die Befunde Urs Wilhelm vom BKS Aargau doch überrascht.

Urs Wilhelm vom BKS Aargau vergleicht gelingende Kooperation mit einem neuronalen Netzwerk. Im Gespräch mit Steff Aellig erzählt er, dass der Kanton Aargau seinen Schulen die Ressourcen künftig pauschal zur Verfügung stellt. Damit sollen Schulleitungen mehr Flexibilität im Umgang mit Belastungen erhalten.

Interview mit Urs Wilhelm über die pauschale Ressourcierung

Transkript Interview mit Urs Wilhelm über die pauschale Ressourcierung

Steff Aellig: Urs Wilhelm, was war für den Kanton Aargau der Anlass, so eine vergleichende Studie zur Tragfähigkeit von Schulen in Auftrag zu geben?

Urs Wilhelm: Wir haben im Kanton Aargau – wie wahrscheinlich in verschiedenen anderen Kantonen – festgestellt, dass die sozialen Beeinträchtigungen von den Schülerinnen und Schülern in einem starken Ausmass ansteigen. Und als wir diese Daten analysierten, haben wir festgestellt, dass man die nicht irgendwie an einem Schulmerkmal wie Grösse, Urbanität, soziale Belastung usw. festmachen können, sondern, dass das offenbar von ganz anderen Faktoren abhängig ist. Und wir wissen nicht was das für Faktoren waren, hatten vielleicht Vermutungen. Und entschlossen uns dann, da näher heranzuschauen und eine Studie in Auftrag zu geben.

Aellig: Jetzt haben ja diese Forscher zwölf Schulen miteinander verglichen, sind dort wirklich auch in die Tiefenstruktur hineingetaucht. Wie habt ihr diese zwölf Schulen ausgesucht?

Wilhelm: Wir wissen nicht, welches diese zwölf Schulen sind, wir im Kanton Aargau wissen das nicht. Das war eigentlich der «Deal», dass diese Forscher mit diesen Schulen ganz unabhängig ins Gespräch kommen konnten, und diese Schulen unbefangen Antwort geben konnten. Wir haben diesem Forschungsteam eine Datenbank zur Verfügung gestellt mit relevanten Daten. Daraus haben sie nachher eine repräsentative Auswahl an Aargauer Schulen gezogen.

Aellig: Jetzt haben diese dann so unterschiedliche Typen von Schulen gezeichnet, die unterschiedlich mit ihren Ressourcen und ihren Belastungen umgehen. Was ist für euch jetzt von der kantonalen Seite her, ein zentraler Befund, der aus dieser Geschichte schlussendlich herausgestochen ist?

Willhelm: Ja, wie wichtig dass Kooperationsfähigkeit an den Schulen ist. Das ist ganz zentral. Und interessant ist auch, dass die Kooperationsfähigkeit und auch die Kommunikationsfähigkeit unter den Beteiligten an der Schule, dass diese nicht unbedingt in einer formalen Art ausgeprägt sein muss. Sondern, dass auch informelle Kontakt- und Kommunikationsformen durchaus die Tragfähigkeit einer Schule erhöhen können.

Aellig: Aus deiner Erfahrung und aus deiner Schul-Innensicht, kann man das irgendwie beschreiben, also die Merkmale einer gelingenden, erfolgreichen Kooperation in einem Schulsystem?

Willhelm: Ja, das ist noch schwierig, weil Kooperation ist ja immer eine Antwort auf alles. Wenn irgendetwas nicht funktioniert, dann heisst es: «Arbeitet doch zusammen!» Ich sehe vielleicht eine gute Kooperation in der Art eines neuronalen Netzwerkes. Das heisst, die Beteiligten sind quasi in einem «Standby-Modus», und die Verbindungen untereinander werden dann aktiviert, wenn sie gebraucht werden. Also, wenn es irgendwo brennt, dann schaltet man jene Verbindung heiss, die es braucht. Und wenn es sie nicht braucht, geht es wieder zurück, und es kommt vielleicht jemand anderes dazu, der einen Beitrag zu leisten hat

Aellig: Ein schönes Bild, das mit dem neuronalen Netzwerk für Kooperation. Mich nimmt Wunder, wie geht es jetzt weiter, von der Seite vom Kanton her? Was baut ihr darauf auf? Kooperation und Kommunikation kann auch informell stattfinden, dass sie unterstützt – eigentlich eher ein überraschender Befund…

Willhelm: Das sind nachher auch die Befunde, bei denen wir jetzt das Gefühl haben, da müssen wir einhängen, da müssen wir etwas machen. Und wir haben dann zuerst einmal ein Projekt, das im Kanton Aargau jetzt am Laufen ist, das ist, dass wir die Ressourcen pauschal allen Schulen zuteilen. Und zwar eben auch die Ressourcen, bei denen es um die besondere Förderung geht, um die Förderung von Kindern mit Behinderungen.

Aellig: Was genau versprecht ihr euch davon, im Zusammenhang mit Tragfähigkeit und Kooperation?

Willhelm: Diese Studie hat zum Ausdruck gebracht, dass Schulleitungen eine zentrale Rolle spielen. Dass Schulleitungen in gewissen Situationen schnell Ressourcen zur Verfügung stellen können müssen. Und mit diesem Ressourcierungsprojekt machen wir genau das: Wir erhöhen den Gestaltungsraum der Schulen. Wir erhöhen nicht unbedingt die Ressourcenmenge, das ist leider nicht möglich. Aber wir erhöhen den Gestaltungsraum. Das heisst, eine Schule kann situativ reagieren, sie kann unmittelbar reagieren und sie kann dort Ressourcen zuteilen, wo es sie braucht. Muss sie allerdings auch an einem anderen Ort wegnehmen, wo es sie vielleicht etwas weniger braucht.

Tragfähige Schulen

Für eine erfolgreiche Bewältigung von herausfordernden Situationen und damit für die Tragfähigkeit der ganzen Schule sind Klima, Innovationspotenzial und Kooperationsfähigkeit zentrale Faktoren. «Sind die klimatischen Bedingungen im Team schlecht, so werden die Spannungen externalisiert und bei den «schwierigen» Schülerinnen und Schülern deponiert», erklärt Barth den dahinterliegenden Prozess, «Stigmatisierung, Isolation, Abstufung und Ausschluss von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern sind die Folge.»

Im Gespräch mit Steff Aellig erläutert Daniel Barth, worauf es bei der Tragfähigkeit ankommt, und weist dabei auf die wichtige Unterstützungsfunktion der Schulleitung hin.

Interview mit Daniel Barth über tragfähige Schulen

Transkript Interview mit Daniel Barth über tragfähige Schulen

Steff Aellig: Was ist aus Deiner Sicht als Forscher, als Wissenschaftler, in der Zwischenzeit passiert? Was für neue Erkenntnisse haben sich ergeben?

Daniel Barth: Wir haben gemerkt, dass «KASUS» mit dem Fokus auf Ausbildung, Weiterbildung eine zu «individualistische» Konzeption ist. Aellig: Was heisst das? Barth: Es heisst, dass es eben nicht nur auf die Kompetenz des einzelnen Pädagogen darauf ankommt, sondern, es kommt darauf an, wie ein Team mit diesen Verhaltensauffälligkeiten in einer Klasse, in einer Schule umgeht. Das sind die Erkenntnisse, die wir in einer Untersuchung im Kanton Aargau gemacht haben.

Aellig: Kannst du kurz schildern: Was genau habt ihr untersucht, und was ist dabei herausgekommen?

Barth: Wir haben 13 Schulen untersucht, und die unterscheiden sich im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern. Sie unterscheiden sich auch auf anderen Merkmalen einer Schule, so zum Beispiel, wie viele sonderpädagogische Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen. Wir haben festgestellt, durch Befragung aller Akteure, also Lehrpersonen, Therapeutinnen, Heilpädagogen, Schulleiter, haben wir herausgefunden, dass es ganz grosse Unterschiede gibt im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern und Schülerinnen.

Aellig: Also Unterschiede nicht nur zwischen den Personen, sondern auch zwischen den Schulen. Barth: Ja, zwischen den Schulen, also wir haben immer… Die Untersuchungseinheit war die Schule. Und diese Unterschiede konnten wir mit einzelnen Faktoren in einen statistischen Zusammenhang bringen. Aellig: Das heisst, es gibt Schulen, die haben eine gute Bewältigung und hohe Tragfähigkeit im Umgang mit schwierigen Schülern, und bei anderen Schulen fliegen diese Schüler viel schneller aus dem System raus?

Barth: Ja, das kann man so sagen. Wir haben festgestellt, dass die Tragfähigkeit insbesondere von der Kooperationsfähigkeit einer Schule abhängt. Es gibt noch andere Faktoren, aber primär kommt es drauf an, ob die Kooperation in einem Team gelingt. Ob eben diese «schwierigen» Schüler in der Schule verbleiben können oder ob sie exkludiert werden in Sonderklassen, Sonderschulen.

Aellig: Kooperation ist ein grosses Wort, manchmal ein Schlagwort, worauf genau kommt es an in diesem Zusammenhang, dass eine Schule tragfähig ist oder nicht?

Barth: Der Prozess ist der, dass diese Schüler, die sogenannten schwierigen Schüler, eben oftmals Ängste haben, Versagensängste, die sie zum Beispiel aggressiv bewältigen. Das ist ein Abwehrmechanismus. Und diese Ängste und diese Aggressionen, die stellen für die Pädagogen, die mit diesen Kindern zu tun haben, grosse Anforderungen. Diese Schülerinnen und Schüler produzieren eine Spannung, die dann bei den einzelnen Lehrern, die mit diesen Schülern zu tun haben, eben Belastung erzeugt, und oftmals auch eine Gegenreaktion auslöst, dass man sie zum Teufel wünscht, oder eben am liebsten auf den Mond schiessen würde.

Aellig: Nochmals die Frage: Wieso soll Kooperation da ein Heilmittel darstellen? Und was genau ist darunter zu verstehen? 

Barth: Es geht ganz banal darum, dass diese Belastung, die von diesen Schwierigkeiten, die diese «schwierigen» Schüler haben mit der Schule und in der Schule, dass die auf verschiedene Schultern verteilt werden können. Wenn ich nicht alleine bin und ich mich nicht alleine fühle im Umgang mit diesen Schülern, dann bin ich viel eher bereit, eine nachhaltige, tragfähige Lösung zu finden für diesen Schüler, als wenn ich mich im Stich gelassen fühle, ganz alleine, und die Belastung alleine bewältigen muss.

Aellig: Also könnte man ganz profan das alte Sprichwort bemühen: «Geteiltes Leid ist halbes Leid»?

Barth: Das trifft so zu. Ich würde vielleicht die Metapher der Schultern, die Last auf verschiedenen Schultern verteilen, so, dass die Tragfähigkeit eines Teams grösser wird. Man mag mehr Last buckeln.

Aellig: Woran zeigt sich ganz konkret in einer Schule, dass eben diese Last auf mehreren Schultern liegt, und nicht alleine getragen werden muss?

Barth: Ganz konkret zeigt sich das am Klima, dass in einem Team herrscht. Wenn das Klima gut ist, dann ist die Schule tragfähiger. Dann an der Innovationsfähigkeit des Kollegiums, das heisst, an seiner Offenheit gegenüber neuen und unüblichen Lösungen – eben zum Beispiel im Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern. Es gibt aber auch negative Faktoren.

Aellig: Zum Beispiel?

Barth: Wenn sich die Lehrpersonen einer Schule belastet fühlen, wenn sie mit ihrer Arbeit unzufrieden sind, sich überfordert fühlen, dann kommen tendenziell mehr exkludierende Lösungen zustande. Dann sind sie nicht mehr bereit, mit diesen Verhaltensauffälligen Schülern weiterzuarbeiten.

Aellig: Welche Rolle spielt in diesem Prozess die Schulleitung?

Barth: Die Schulleitung spielt eine sehr wichtige Rolle. In zwei Schulen, wo kreative tragfähige Lösungen für diese Schüler gefunden wurden, hatten die Schulleiter entweder heilpädagogische Kenntnisse, zum Teil Ausbildungen, oder zumindest ein grosses Verständnis für diese Perspektive. Es braucht also auf der Seite der Schulleitung ein Verständnis für Diversität auf der Ebene von Verhalten. Aber auch die Bereitschaft, zeitlich begrenzt Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Lösungen zu kreieren mit Assistentinnen mit Hospitationen, mit Fachstellen, die Hilfen bringen und aufklären. Supervision… Ein Schulleiter, den wir hatten in unserem Sample, war sich auch nicht schade, einen Elternbesuch zu machen bei diesen Eltern des verhaltensauffälligen Schülers. 

Aellig: Das heisst, wenn es brennt, muss eine Schulleitung dastehen, Verantwortung übernehmen und etwas tun?

Barth: Richtig. Das kann man so auf den Punkt bringen. Ein Wille, mit allen Beteiligten eine Lösung zu suchen und auch einen eigenen Beitrag zu dieser Lösung zu leisten, ist eine Grundvoraussetzung für Schulleiter in tragfähigen Schulen.

Interessant ist, dass die Tragfähigkeit einer Schule nicht eins-zu-eins mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zusammenhängt. «Wir haben Schulen gefunden, die haben überdurchschnittlich viele Ressourcen zur Verfügung, setzen diese aber nicht wirkungsvoll ein», erzählt Daniel Barth, «an diesen Schulen fliegen auffällige Schüler trotzdem relativ schnell aus dem System raus.» Wichtig für eine gelingende Kooperation könne auch der informelle Austausch von Lehr- und Fachpersonen über die Kinder und Jugendlichen sein, haben Barth und seine Forscherkollegen festgestellt.

Im Gespräch mit Steff Aellig erzählt Daniel Barth von einer Schule mit einer hohen Tragfähigkeit, welche sich durch ein «wertschätzendes Plaudern» über schwierige Schüler auszeichnet.

Interview mit Daniel Barth über Kooperationsformen

​ Transkript Interview mit Daniel Barth über Kooperationsformen

Daniel Barth: Die beiden Schulen, die bezüglich Kooperation vorbildlich waren. Die eine hat die Probleme einfach kleingeredet, kann man sagen. Die hat an verschiedenen Orten im Schulalltag immer wieder das Gespräch miteinander gesucht. Alle Lehrer – es war eine kleine Schule – haben diese Schüler gekannt, auch die schwierigen Schüler, selbst die, die nichts mit diesem Schüler zu tun hatten. Und die hatten einen Fachaustausch, der aber spontan entstanden ist, aber auch nicht rein psychohygienischer Natur war.

Steff Aellig: Also einfach ein Plaudern über die Kinder, oder wie muss man sich das vorstellen? 

Barth: Ja genau, also ein Plaudern über das Kind, und ein Austausch über Beobachtungen, die sie über ein Kind hatten. Und hören, wie war dieses Kind nun bei dir? Genau. Aber kein Lästern, kein Verwünschen, oder so. Aber es sind verschiedene Beobachtungen eingeflossen und man hat ausgetauscht. Man hat auch nach Lösungen gesucht, zusammen. Die andere Schule hat das etwas systematischer gemacht, die hat immer wieder Reflexionsrunden organisiert, im intervisorischen Sinn. Sie haben zum Beispiel auch Fachstellen eingeladen. Weil es war ein Autist, um den es dort ging. Die haben mit einer Fachstelle für Autismus zusammengearbeitet, die hat dann zum Teil auch mit der Klasse gearbeitet. Psychoedukative Methoden, Information, was das jetzt bedeutet, als Mitschüler, wenn man mit einem autistischen Kind zur Schule geht. Und die haben das ein wenig systematischer gemacht, aber auch eine ernsthafte Reflexion von Problemen, die entstehen, wenn solche Kinder in der Klasse sind.

Aellig: Das heisst, man könnte eine These haben: Belastung und Probleme lassen sich im Prinzip rein durch das darüber Reden bewältigen? – Oder reduzieren, kann man sagen.

Barth: Ja! Das kann man, es braucht dann neben dem auch Ressourcen, also das ist dann auf der strukturellen Art, braucht es Ressourcen, das heisst, der Schulleiter, der signalisiert: Euch wird Hilfe gegeben. Sporadisch, temporär begrenzt werden Hilfen zur Verfügung gestellt. Man lässt euch mit diesen Schülern nicht alleine, das ist ganz wichtig. Wir haben aber auch… Das alleine nützt nichts, es braucht dieses Gespräch. Wir hatten eben auch Schulen, die hatten ganz viele Ressourcen – und haben es vermasselt. Im Sinne von, dass diese Schüler dann doch exkludiert in Sonderschulen weiterverwiesen wurden.

Aellig: Was würdest du sagen? Aufgrund dieser Beobachtungen kann man sagen, das Gespräch über die Kinder und die Möglichkeiten, die man mit ihnen machen kann, ist eine Basis, aber wenn es dann brennt, dann braucht es auch Ressourcen, um etwas damit zu machen?

Barth: Ja genau, das kann man so sagen. 

Aellig: Konntet ihr dann nicht umgekehrt auch feststellen, dass durch dieses ständige Reden über die Kinder auch eine Art Problemfokussierung stattfindet, und man die negativen Seiten zu fest beton

Barth: Das haben wir in einer Schule festgestellt. Dort wurde viel über das Kind gesprochen, aber dort hat quasi diese Diskussion die Form angenommen, dass man eigentlich sich darauf verständigte; der Schüler gehört nicht in dieses Schulhaus. Und diese Haltung – er gehört nicht in eine Regelschule – diese Haltung wurde auch vom Schulleiter geteilt. Und dann nützt auch ein intensives Gespräch eigentlich nichts, sondern dann ist HfH Kompakt Transkript Seite 2 von 2 eben, das was du sagst, dann hilft das noch, einen Ausschluss zu legitimieren, wenn man miteinander lästert.

Aellig: Es war dann quasi ein Lästern und sich Bestätigen in der exkludierenden Haltung, statt ein gemeinsam nach Lösungen zu suchen?

Barth: Richtig, ja. Also der Schüler wurde zum Beispiel uns als Forschungsteam vorgeführt. Wurde vor uns lächerlich gemacht. In allen anderen Schulen wollten sich diese Teams immer gut darstellen, als Professionelle, als vernünftig Handelnde.

Aellig: Ein Aspekt liess mich noch aufhorchen. So bisschen dieses spontane unformalisierte Gespräch. Versus, was man jetzt so sagt; man macht eine Helferkonferenz, Rundtischgespräche und so… So wie ich dich jetzt hörte, geht auch dieses Spontane und «Nicht-Formalisierte».

Barth: Richtig, ja. Das geht auch. Das war eine kleinere Schule auf dem Land, mit sehr engen Beziehungen, die verstanden auch den Pausenplatz und Schulweg als schulische Aufgabe. Also, sie übernahmen sehr viel Verantwortung als Schulteam. Und die haben das jetzt so gemacht. Die andere Schule, wo das etwas formalisierter gegangen ist, die haben interessanterweise eben auch nur dann kooperiert, wenn es brannte. Dann waren in kurzer Zeit alle bereit für ein Gespräch oder für ein Dings. Aber sie hatten keine regelmässige Intervisionen oder so etwas, das hatten sie auch nicht.

Aellig: Hängt dieses Spontane vielleicht auch noch mit der Grösse zusammen? 

Barth: Das nehme ich jetzt an, ja.

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