Den Schulweg virtuell trainieren

Reportage

Mit moderner Technologie sollen Jugendliche mit kognitiver oder körperlicher Beeinträchtigung lernen, sich sicher im Strassenverkehr zu bewegen. Ein Blick in das Kooperationsprojekt der HfH, ZHAW und der Stiftung Vivala.

Kontakt

Ingo Bosse Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für ICT for Inclusion

Marius Haffner Titel MA

Funktion

Advanced Lecturer

Sicher im Strassenverkehr. «Für unsere Kinder und Jugendlichen ist das korrekte und sichere Verhalten im Verkehr eine grosse Herausforderung», erklärt Andreas Illenberger von der Stiftung Vivala. Bisher wurde mit Kreide ein Parcours auf den Pausenplatz gemalt, um die Verkehrsregeln einzuüben. Neu trainieren die Schüler:innen diese Situationen im Dachgeschoss der Einrichtung – mit Virtual Reality (VR). «Vom Training in einer virtuellen Umgebung erhoffe ich mir eine grössere Wirkung: Gefährliche Situationen meistern, ohne sich wirklich in Gefahr begeben zu müssen», bringt der Heilpädagoge Illenberger das Ziel auf den Punkt. Wie man sich dieses Training genau vorstellen kann, zeigt das folgende Video.

Virtuelles Verkehrstraining. Das Video gibt Einblick in das Forschungsprojekt der HfH, ZHAW und Vivala.

Virtuelle Welt. Wenn es um das Einüben von potenziell gefährlichen Situationen geht, liegt der Vorteil von virtuellen Umgebungen auf der Hand: Auch die Gefahr ist virtuell. Das zeigt das Beispiel von Gabriel, einem der Vivala-Schüler, der an diesem Projekt teilnimmt. Das heranbrausende Auto kann ihm nichts anhaben, er hört und sieht es nur durch die VR-Brille. Gabriel steht auf einem runden Teller von einem halben Meter Durchmesser und hat spezielle Schuhe an den Füssen. Hinter ihm sitzt der Techniker Sacha Guyer an einem Laptop und überwacht seine Handlungen in der virtuellen Verkehrsumgebung. Zwar bewegt sich Gabriel etwas ungelenk auf dieser Platte, aber sein Rufen und Lachen zeigt den Zuschauern: Er ist eingetaucht in die virtuelle Welt. Am Fenstersims lehnt Andreas Illenberger, Leiter des Bereichs Schule in der Stiftung Vivala. Mittlerweile kann er es gelassen nehmen. «Die Jungs kennen den Ablauf schon gut. Sie wissen, dass sie Teil eines Forschungsprojekts sind, und das macht sie stolz.»

Hürden der Technik. Das Training wird von der HfH und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wissenschaftlich begleitet. Ziel des Forschungsprojekts ist das Entwickeln und Erproben von VR-Anwendungen für Menschen mit Beeinträchtigung. «Die Idee dazu kam von den Jugendlichen selber», erklärt Projektleiter Ingo Bosse, Professor für ICT for Inclusion an der HfH. «Weil die Schule Vivala ausserhalb von Weinfelden liegt, wollten die Schüler in der Lage sein, den anspruchsvollen Fussweg in die Innenstadt alleine zu bewältigen.» Ganz so weit ist die VR-Technik aber noch nicht entwickelt. Durch die VR-Brille erleben die Schüler zwar Situationen im Verkehr, doch die echte Umgebung von Weinfelden lässt sich noch nicht abbilden. «Wir kämpfen seit Beginn mit verschiedensten technischen Herausforderungen», meint Co-Projektleiter Marius Haffner, Advanced Lecturer an der HfH. «Wir sind schon froh, wenn die Fussbewegungen auf der Platte mit der Wahrnehmung durch die Brille ruckelfrei und ohne zeitliche Verzögerung koordiniert ist», muss Haffner eingestehen.

Teilhabe ganz wichtig. Die Schülerinnen und Schüler sind zentrale Partner in diesem Entwicklungsprojekt. Ihre Rückmeldungen zu dem, was sie in der virtuellen Umgebung erleben, geben wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung der Software. Nach jedem Übungsdurchgang findet deshalb ein kurzes Evaluationsinterview statt. «Für die Schüler ist es nicht immer einfach auszuhalten, dass die Technik nur kleine Entwicklungsschritte machen kann», erzählt Haffner. «Aber es ist uns wichtig, dass wir diese Software nicht einfach im ‹stillen Kämmerchen› entwickeln, sondern die Kinder und Jugendlichen auf Augenhöhe mit einbeziehen.»

Blick in die Zukunft. Mittlerweile ist Gabriel von der sogenannten «Treadmill» heruntergestiegen. Erschöpft hängt er in einem Stuhl, die Spezialschuhe liegen auf dem Boden. Der Begleiter Andreas Illenberger hat Gabriel die VR-Brille abgenommen. «Das Training braucht viel Konzentration, die Jungs sind nachher fix und fertig, aber total happy», so Illenberger. Er blickt zuversichtlich nach vorne: «VR ist unsere Zukunft, davon bin ich überzeugt. Und wir wollen ein Teil davon sein.»

Autoren: Steff Aellig, Dr. und Dominik Gyseler, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (März 2023)