Inklusive Berufsbildung nicht dem Zufall überlassen
Tagungsrückblick
Jugendliche mit Beeinträchtigungen haben ein höheres Risiko, beim Übergang in den Beruf zu scheitern. Eine Reihe von Massnahmen könnten ihre Erfolgschancen jedoch systematisch verbessern. Das zeigte die Tagung «Lehrbetrieb und Schule im Dialog – so gelingt’s».

Jugendliche mit Auffälligkeiten. Noah besucht die zweite Sekundarschule. Es ist das wichtige Jahr, in welchem die Berufswahl stattfindet. Im Unterricht und auch sonst fällt Noah auf: Fühlt sich schnell provoziert und reagiert dann übertrieben laut und aggressiv. Er ist unkonzentriert und sprunghaft, manchmal auch kreativ und lustig. Für die Lehrpersonen ist klar: Aufmerksamkeitsstörung, kurz ADS. Doch eine offizielle Diagnose hat Noah nicht. Und seine Eltern wehren sich schon seit der Primarschule gegen eine Abklärung und einen allfälligen Versuch mit Ritalin. Auffällige Jugendliche wie Noah standen im Zentrum der Tagung «Schule und Lehrbetrieb im Dialog – so gelingt’s»: Was braucht es, damit sie erfolgreich eine Lehre absolvieren können?
Im Video berichten die Tagungsreferent:innen, was es für eine gelingende inklusive Berufsbildung braucht.
Hohes Risiko für Abbruch. Tatsächlich seien Jugendliche mit Beeinträchtigungen eine grosse Herausforderung für unser System, stellen die beiden Tagungsleitenden Claudia Hofmann und Claudia Schellenberg fest. Beide erforschen an der HfH seit Jahren den Übergang von der Schule in den Beruf. Die Befunde aus einer aktuellen Studie sind alarmierend: «Rund jeder und jede fünfte Jugendliche zeigt Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Bereich», so Claudia Schellenberg. Und das sei ein klarer Risikofaktor – nicht nur für die Berufsfindung, sondern auch für den Erfolg der beruflichen Integration. «Jugendliche mit Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen sind deutlich höher gefährdet, ihre Lehre wieder abzubrechen», sagt Claudia Hofmann in ihrem Einführungsreferat.
Viele Schnuppereinsätze nötig. Gerade bei Jugendlichen mit Auffälligkeiten werden bereits in der Schule entscheidende Weichen für die berufliche Integration gestellt: «Auch wenn die Letztverantwortung bei den Eltern liegt, muss die Schule kompetent unterstützen. Weil diese Jugendlichen individuelle Bedürfnisse haben, müssen sie auch individuell begleitet werden», sagt Daniel Gebauer vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Dabei kommt der verantwortlichen Schulischen Heilpädagogin eine wichtige Rolle zu, sagen Claudia Hofmann und Claudia Schellenberg: «Die fallführende Heilpädagogin muss beispielsweise dafür sorgen, dass möglichst viele verschiedene Schnuppereinsätze stattfinden können. Nur so kann eine Passung zwischen dem zukünftigen Lehrbetrieb und den individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen des Jugendlichen gefunden werden.»
Betriebe brauchen Wissen über Behinderung. Eine wichtige Rolle spielt die Diagnose. «Sie ist entscheidend, weil ein ‹Fall› erst dann bei der IV angemeldet werden kann und damit die Finanzierung und Begleitung gesichert ist», weiss Vera Class, Berufsbildungsexpertin und Tagungsmoderatorin. Und Ressourcen sind in der Berufsbildung immer ein zentrales Thema. Vor allem, wenn es um Jugendliche mit einer Beeinträchtigung geht. In vielen Betrieben sei zwar eine Bereitschaft vorhanden, Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf eine Chance zu geben, aber die Ressourcen seien nicht da. Damit sei nicht nur die zusätzliche Zeit gemeint, die solche Jugendlichen für die Begleitung und Betreuung brauchen, sagt die HfH-Professorin Claudia Schellenberg. «Viele Betriebe brauchen schlicht mehr Wissen im Umgang mit Beeinträchtigungen. Das baut die Berührungsängste ab und erhöht die Erfolgschancen.»
Fehlende Kultur und Struktur. Doch behinderungs- und störungsspezifisches Wissen ist nur ein Faktor für eine gelingende inklusive Berufsbildung. Wichtig seien auch die Betriebskultur, eine klare Führung sowie klare Erwartungen, wie der Chefarzt Psychiatrie Thomas Ihde in seinem Referat ausführt. Ihde ist Spezialist für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz, selber Vater eines Jugendlichen im Autismus-Spektrum, und hat in England gelebt und gearbeitet. «In der Schweiz ist es oft vom einzelnen Betrieb abhängig, ob die Integration eines Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung gelingt», berichtet er aus eigener Erfahrung. Im Unterschied dazu ist in England vieles klarer geregelt und strukturiert. «Ein Beispiel sind die Standortgespräche am runden Tisch. In England werden dort gleich Entscheide gefällt und Massnahmen beschlossen.» In der Schweiz hingegen passiere beim Gespräch wenig. Die Entscheidungen würden oft betriebsintern im Nachhinein gefällt, ohne Einbezug des betroffenen Jugendlichen und seiner Eltern. «Und das ist oft nicht zielführend», so Ihde.
Kompetenzzentrum für inklusive Berufsbildung. Was ist denn nun das Spezifische, das Besondere bei Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung? «Es gilt dasselbe zu beachten wie bei anderen Jugendlichen, einfach noch etwas aufmerksamer», sagt die Berufsbildungsexpertin Vera Class. Förderlich wäre aus ihrer Sicht insbesondere eine bessere Systematisierung in der Schweizerischen Berufsbildung. «Bei uns ist vieles noch beliebig und zufällig – nicht nur für Jugendliche mit einer Beeinträchtigung, sondern für alle. Der Erfolg der beruflichen Integration ist dann ein Stück weit eine Lotterie.» Deshalb fordert Class ein Kompetenzzentrum, durch welches die inklusive Berufsbildung schweizweit besser verankert und koordiniert werden kann. «So könnten auch ethische und fachliche Standards in den Betrieben etabliert werden. Das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung Inklusion», so Class.
Die Tagung «Lehrbetrieb und Schule im Dialog – so gelingt’s» fand am 10. Mai 2025 in Zürich statt. Die Impulsreferate wurden online übertragen. Die Tagung war ein Anlass des Instituts für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung und wurde von Claudia Schellenberg, Prof. Dr., und Claudia Hofmann, Dr., geleitet. Moderiert wurde die Tagung von Vera Class, Berufsbildungsexpertin und Geschäftsleiterin Heartwork GmbH.
Autoren: Steff Aellig, Dr., und Dominik Gyseler, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (Mai 2025)