Audiopädagogik, Gebärdensprachpädagogik, bilingual

Kategorie Institutsthema

Wie es schwerhörigen und gehörlosen Menschen im Alltag geht, hängt stark mit den jeweiligen Kommunikationsbarrieren – aber vor allem mit den Kommunikationsstrategien – zusammen. Sie sprachlich, sozial-emotional und technologisch zu unterstützen ist zentral.

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Mireille Audeoud Titel Dr. phil.

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Senior Researcher

Hörbehinderung ist nicht gleich Hörbehinderung. Der Hörstatus ist nur indirekt ein wichtiger Faktor. Vielmehr spielen folgende Fragen eine zentrale Rolle:

  • Wird Sprache lieber über das Hören (evtl. durch Hörgerätetechnik unterstützt) oder über das Sehen (durch Gebärdensprache) wahrgenommen?
  • Wird lieber gesprochen oder gebärdet?
  • Und gibt es vielleicht verschiedene Situationen, in denen man zwischen den beiden Möglichkeiten wechselt (bilingual)?

Man spricht häufig von der Orientierung: einer lautsprachlichen oder gebärdensprachlichen Orientierung. Die Orientierungen sind in den beiden Förderrichtungen sichtbar:

  • Die Audiopädagogik ist dazu da, dass hörbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche und deren Familien möglichst gut in der auditiven und visuellen Wahrnehmung gefördert werden und Sprachkenntnisse aufgbaut werden. Hierbei können auch lautsprachbegleitende sowie -unterstützende Gebärden mitverwendet werden; auch Mundabsehen kann eine Rolle spielen. Wichtig ist aber auch das Wissen um die Handhabung von technologischen Möglichkeiten (Hörgeräte, Cochlea Implantat, FM-Anlagen, Bluethoothverbindungen mit Apps, usw.). Es sollen individuelle Strategien entwickelt werden, wie Alltagssituationen gemeistert und Barrieren vermindert (beispielsweise in Form von Störlärm) werden können, damit die betroffenen Personen sagen können: «Mir geht es gut, weil ich es steuern kann!». Natürlich soll auch das Umfeld (Familie, Klassen) senisibilisiert werden, um Kommunikationsbarrieren abzubauen.
  • Gebärdensprachpädagogik fokussiert an sich dasselbe, fördert jedoch vor allem die visuelle Wahrnehmung und Gebärdensprache. Der kommunikative Zugang zu Wissensinhalten steht hierbei aktuell im Vordergrund. Aber auch hier sollen Kommunikationsstrategien entwickelt werden.

Es erscheint nun zunehmend wichtig, dass Kinder schon früh für beide Orientierungen vorbereitet werden, damit sie die Wahl haben; denn nicht in jeder Alltagssituation ist beides möglich, auch nicht in jeder Lebensphase. Studien zeigen, dass sich die Orientierung verändern kann, manchmal auch abhängig von einer Verschlechterung des Hörstatus. Eine Orientierung, bei der die Wählbarkeit der beiden Ansätze früh angebahnt wird, ist der Weg der Bilingualität, Kinder also bilingual und bimodal in Gebärden- und Laut- bzw. Schriftsprache zu fördern, zudem eine bikulturelle Orientierung mitzugeben. Letzteres hilft bei der Identitätsentwicklung.

Bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern sollen sowohl die sprachlichen als auch die sozial-emotionalen Kompetenzen und Strategien gefördert werden.

Zukünftige Entwicklungen

Durch die kommende Anerkennung der Gebärdensprache wird auch in den Bildungssettings eine bilinguale Bildung und (Früh-)Förderung eher möglich. Dies bedarf nun aber einiger Entwicklungen, sowohl in der Ausbildung und in den Weiterbildungen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (beispielsweise im Modul Hören I und Hören II sowie im Lehrgang Gebärdensprachlehrer:in als auch im Bereich Forschung und Entwicklung.

Folgende Fragen müssen geklärt werden:

  • Wie kann eine bilinguale Frühförderung und wie ein Unterricht aussehen? Welche Bildungsziele verfolgt eine Institution?
  • Welche berufsspezifischen Sprachkompetenzen braucht es dafür bei hörenden, gehörlosen und schwerhörigen Fachpersonen?
  • Wie können Unterrichts- und Fördermaterialien aussehen?
  • Wie können Kompetenzen bei den Kindern und Jugendlichen überprüft werden? Zum Projekt «Testverfahren der Deutschschweizerischen Gebärdensprache für gehörlose Kinder im schulischen Kontext»
  • Wie können die bis anhin individualisierten Förderungen gebärdensprachliche, visuelle Ansätze und technologische und audiopädagogische Praktiken gleichzeitig und gleichwertig miteinander verbinden?
  • Welche technologischen Produkte (künstliche Intelligenz) können den bilingualen Weg unterstützen?
  • Erhöht die Wählbarkeit der Sprachmodi die Lebensqualität und Partizipation? Welche Strategien müssen dazu gelernt werden?
  • Eine bilinguale Förderung bedeutet immer auch eine bikulturelle Förderung, damit die sozial-emotionale Entwicklung in beiden «Kulturen» gefördert werden kann – wie gelingt dies?

Lebensqualität, Wohlbefinden und Alltagsbarrieren

Vergleicht man Studienergebnisse zur Lebensqualität und zum Wohlbefinden Schwerhöriger und Hörender im internationalen Kontext, so ist festzustellen, dass die Ergebnisse widersprüchlich sind:

  • Einerseits zeigen sich in Untersuchungen von hörbeeinträchtigten und hörenden Kindern und Jugendlichen keine erheblichen Unterschiede; es sei denn, man betrachtet unterschiedliche Alltagsbereiche.
  • Andererseits zeigen sich sehr wohl Unterschiede; Hörbeeinträchtigte sind im Allgemeinen erschöpfter und haben häufiger Gefühle wie Langeweile und Deprimiertsein, welche die Lebenszufriedenheit verschlechtern. Sie zeigen eine zwei- bis dreifach höhere Häufigkeit von emotionalen Problemen als hörende Gleichaltrige. Dies kann sich gerade in der Adoleszenz verstärken.

Allerdings vernachlässigen bestehende Studien zum Wohlbefinden oft gerade die situativen Bedingungen, da es sich um einmalige Erhebungen handelt. Jedoch sollten die Situationen selbst genauer untersucht werden. Nur: «little is known about how such disturbances manifest themselves in everyday contexts» (Schneiders et al., 2007, S. 697). Hörgerätetechnologie, die die Akkustik des Raums und die Interaktionssituation unterstützen, werden dabei nicht gleichzeitig erforscht. Aber es sind gerade die situativen Bedingungen in Alltagsaktivitäten wie Unterhaltungen, Zusammenarbeit oder Lernen, die vor allem bei Schwerhörigen eine Partizipationsbarriere darstellen: Hören und Kommunikation im Störlärm bedeutet für sie einen Mehraufwand, der eine schnellere und länger andauernde Ermüdung als Folge haben kann, auch mit technischer Versorgung (Hörgeräte, Cochlea Implantat, FM-Anlage). Die Situationsbedingungen, die bei Gebärdensprachorientierten gelten, kennt man, jedoch tauchen diese nie in Erhebungen auf.

Konsequenterweise kann dies zu erhöhtem Stresslevel im Alltag führen. Fehlen Erholungs- und Kommunikationsreparaturstrategien, kann dies zu Rückzug und depressionsähnlichen Zuständen führen.

Neu soll nun geschaut werden, wie mit einer Form des Blended Coachings die Alltagsbarrieren für lautsprachorientierte und gebärdensprachorientierte Jugendliche direkt erfasst und erleichtert werden können.

Emotionswissen, Theory of Mind und Sprachkompetenz

Gehörlose und schwerhörige Kinder können im Vergleich zu hörenden Gleichaltrigen Schwierigkeiten haben, Emotionen richtig zu erkennen, sie genau zu benennen, zu verstehen und zu regulieren. Deshalb ist die Frage «Wie geht es mir?» nicht immer einfach zu beantworten. Die Fähigkeit, das emotionale und mentale Alltagsleben bei sich selbst und bei anderen zu erkennen und zu reflektieren, ist eine Voraussetzung für soziale Kompetenz und ein erfolgreiches Miteinander. Und diverse Studien bestätigen, dass schwerhörige oder gehörlose Kinder eine Verzögerung in dieser so genannten Theory-of-Mind-Entwicklung (zwei bis zwölf Jahre) aufweisen. Zentral ist: Die Entwicklung von Theory of Mind hängt eng mit dem Spracherwerb zusammen.

  • Wichtige Motoren sind das Beherrschen von Wörtern oder Gebärden für mentale Konzepte und Gefühle und von komplexen syntaktischen Strukturen (Teilsätze mit «ich denke, ich glaube, ich meine, ich wünsche, dass…»).
  • Eine Voraussetzung ist auch, an vielfältigen Gesprächen mit unterschiedlichen Menschen teilnehmen zu können. Dafür sind eine allgemeine Sprachkompetenz und eine gute Qualität der Kommunikation in der Familie, im Kindergarten oder in der Schule wichtig. Dazu gehört zum Beispiel, dass sich Eltern und Pädagog:innen mit den Kindern über die Innenwelten und Gefühle anderer Menschen unterhalten.

Eine Lösung: Die Website Die Gedankenleser ist ein webbasiertes bilinguales Förderprogramm für Theory-of-Mind-Kompetenzen für schwerhörige und gehörlose Kinder und stellt Lehrer:innen und Therapeut:innen im Bereich der Psychologie, Logopädie, Audiopädagogik und Frühförderung ab Vorschulalter Übungen und Materialien in verschiedenen Laut- und Gebärdensprachen zur Verfügung, um die Theory of Mind und das Emotionswissen zu fördern.

Ausserdem findet man vielfältige Informationen zum Zusammenhang zwischen Sprache und Theory of Mind in der Toolbox und warum die Förderung gerade für Hörbeeinträchtigte so wichtig ist, sowie Hinweise für Familien und Sozialpädagog:innen. Als sehr nützlich hat sich die Gebärdensammlung gezeigt, denn es kann die Frage auftauchen, wie «trotzig» oder «verlegen» gebärdet werden. Zur Gebärdensammlung