BAG-SIGN; Be Aware of the Grammars of Sign Languages. Resources for Teachers and Pupils.

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Ziel des Projektes ist die internationale und partizipative Entwicklung einer webbasierten pädagogischen Grammatik (PG) für fünf Europäische Gebärdensprachen (DSGS, DGS, ÖGS, LIS, LSF) für gebärdensprachbenutzende Lehrkräfte im gebärdensprachlichen Unterricht mit hörbeeinträchtigten und hörenden Schüler:innen. Damit können Sprachstrukturen erklärt und geübt werden, die gerade bei Hörbehinderten eine Basis für gelingende Kommunikation und Partizipation bilden.

Durch die PG soll eine Erweiterung der pädagogisch-didaktischen sowie linguistischen Kompetenzen der Lehrkräfte gewährleistet und die Qualität des GS-Unterrichts verbessert werden.

Projektleitung

Mireille Audeoud Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Researcher

Fakten

  • Dauer
    12.2022
    04.2026
  • Neue Projektnummer
    4_54

Projektteam

Ausgangslage

Die Sprachkompetenzen in Schrift-/Laut- oder/und Gebärdensprache sind bei hörbehinderten (hb) Kindern in der Regel nicht gleich gut entwickelt wie die Sprachkompetenzen hörender (hör) Peers (Erbasi, Hickson & Scarinci, 2017). Hb Kinder wachsen i.d.R. aufgrund der Hörbehinderung mit einem eingeschränkten Zugang zur gesprochenen Mehrheitssprache als Erstsprache auf. Der Zugang zu einer Gebärdensprache (GS) als Erstsprache ist oft ebenfalls eingeschränkt oder verzögert, da in über 90% der Fälle die Eltern hörend sind (Mitchell & Karchmer, 2004). Eltern müssten GS erst selbst lernen und die Förderung von GS sowohl in der Frühförderung als auch in der Schule in Europa ist immer noch nicht fest etabliert (Becker et al., 2017).

Der eingeschränkte Zugang zu einer GS und zu einer Lautsprache kann zu weitreichend negativen Konsequenzen in der sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklung hb Kinder führen (Hall, Levin & Anderson, 2017; Marschark & Spencer, 2010). Hb Menschen sind deshalb beim Erreichen von höheren Bildungsabschlüssen und beim Zugang zum Arbeitsmarkt benachteiligt. GS-Kompetenzen sind für ihre Entwicklung und Teilhabe von zentraler Bedeutung.

Jedoch verwenden immer mehr Zentren für Hören und Sprache in Europa Gebärdensprache (GS) als Unterrichtssprache, als Lernziel oder eigenes Fach (siehe Ergebnisse des HfH-Erasmusprojektes «De-Sign Bilingual»). Einige wenige Länder verfügen über einen Gebärdensprachlehrplan und publizierte Lehrmittel. Nun hat auch die Schweiz einen solchen Lehrplan entwickelt (Link zum Fachlehrplan Deutschschweizerische Gebärdensprache).

Die zur Verfolgung solcher Lehrpläne notwendigen Lehrmittel und -materialien sind jedoch kaum publiziert und müssen von den Lehrpersonen selbst hergestellt werden. Das bedeutet, dass es von den Lehrpersonen abhängt, wie welche Inhalte – eben auch Sprachkompetenz und grammatikalisches Regelwissen – unterrichtet werden. Zumindest in der Schweiz kommt durch den neuen Lehrplan die Frage auf, wie diese Lernziele erreicht werden können.

Hemmende Faktoren der Implementierung von GS in der Bildung sind nicht nur die fehlenden Materialien und didaktischen Konzepte für das Fach der nationalen GS, sondern auch dass die Lehrkräfte oft nicht ausreichend für den Unterricht in und mit einer GS qualifiziert sind. Dieses Desiderat kann in dem neuen Ausbildungslehrgang Gebärdensprachlehrer:in an der HfH entschärft werden. Dort werden hb Lehrende unter anderem angeleitet, wie sie metasprachliche Kompetenz unter anderem mit Hilfe einer pädagogischen Grammatik bei Schülerinnen und Schülern (SuS) fördern.

Allgemein sind pädagogische Grammatiken (PG), nebst linguistischen, wissenschaftlichen Grammatiken, didaktisch aufbereitete Grammatiken und haben das Ziel, das sprachliche Regelwerk darzustellen, damit Lernende beim Aneignen einer (Fremd-)Sprache unterstützt werden (Mindt, 1981). Diese kann lehrmittelabhängig sein, sich also an das nationale Sprachlehrmittel orientieren, oder aber lehrmittelunabhängig gestaltet sein.

Solche PG existieren für die Gebärdensprachen in Europa noch kaum (Becker et al., 2017), wenn, dann nur für erwachsene Fremdsprachlernende. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass auch kaum eine übereinkommende Fachterminologie der gebärdensprachlichen grammatischen Phänomene besteht, was eine Vereinheitlichung oder Vergleichbarkeit der Grammatiken und Lernziele erschwert.

Die Grundlage für eine Erstellung der PG geben folgende Punkte (nach Götze, 2010):

  • Auswahl der Inhalte aus der Gesamtheit der linguistischen Grammatik: Es werden die grammatischen Phänomene ausgewählt, die für den Lernprozess/die Lerner:innen und den Unterricht/Lehrkräfte von Bedeutung sind. Ausserdem wird eine grammatische Theorie ausgewählt, die nicht nur den neusten linguistischen Erkenntnissen entspricht, sondern auch Sprachlernzwecken dient.
  • Kriterien für die verständliche, anschauliche und konkrete Darstellung werden berücksichtigt, die auf dem Entwicklungsstand und die Sprache(n) der Lernenden aufbauen.
  • Es gibt geeignete Darstellungsstrategien, die die Orientierung, das Verstehen und Memorieren der Inhalte erleichtern. Dazu gehört z.B. der Einsatz nicht-sprachlicher Mittel wie Visualisierungen. Diese werden gewöhnlich aus dem Erfahrungswissen von Lehrenden abgeleitet.
  • Heterogenität wird berücksichtigt für die Anwendbarkeit im Unterricht: Dazu kann z.B. die Progression des Schwierigkeitsgrads berücksichtigt werden, die aus dem Erfahrungswissen der Lehrkräfte, der Curricula- und Literaturanalyse abgeleitet werden.
  • Enthält ein Glossar von didaktisch gut begründeter Fachterminologie

Vorgehen

Workingpackages

Mit den Hochschulen der fünf Länder wird das Entwicklungskonzept durchgeführt. Es entstehen daraus folgende drei Workingpackages, die in Praxisschulen in allen Ländern erprobt werden:

  • Webbasierte Pädagogische Grammatiken in 5 Gebärdensprachen (DSGS, DGS, LSF, LIS, ÖGS) und Schriftsprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch) und dazugehörende Materialien (Videos, Visualisierungen/Bilder, Übungen, Lernkontrollen) für den Primarschulbereich verschiedener Beschulungssettings, ca. 7 Units
  • Materialien für Präsenzschulung für Lehrkräfte in allen Sprachen
  • Materialien für online Tutorials in allen Sprachen

Evaluationsverfahren, Stichproben

1.    Qualitative Bedarfsanalyse

Nach der Sichtung der relevanten Literatur und GS-Curricula soll mit einer Bedarfsanalyse bei den Praxispartnern/-schulen folgende Themen geklärt werden:

  • welche Herausforderungen/Bedürfnisse verschiedene Gruppen von SuS haben,
  • welche Einsatzmöglichkeiten Lehrkräfte für eine PG in ihrem Unterricht sehen,
  • welche Anforderungen an die sprachliche Gestaltung der PG gestellt werden,
  • welche Herausforderungen Lehrkräfte beim Aufbau von Sprachbewusstheit und wissen/Grammatikunterricht für sich sehen,
  • welcher grammatische Stoff hochfrequent ist und vielseitig benötigt wird,
  • welchen Unterstützungsbedarf Lehrkräfte bei der Verwendung der PG haben (Inhalte für Tutorials).

Die qualitative Bedarfsanalyse beinhaltet

  • die Vorbereitung eines Interviewleitfadens in den GS für ein Fokusgruppeninterview (nach Krueger & Casey, 2015) zu den obenstehenden Themen durch das Forscherteam,
  • ein einführendes kurzes Dokument mit qualitativen/offenen Fragen (zu Praktiken der Lehrkräfte im Grammatikunterricht, Herausforderungen, Bedürfnisse) für Lehrkräfte, welches sie zur Vorbereitung der eigentlichen Datenerhebung bekommen (Selbstreflexion),
  • Durchführung der Fokusgruppeninterviews an einem transnationalen Meeting M2 (3/2023) in sprachlich homogenen Gruppen (LSF, LIS, DSGS/DGS/ÖGS) mit je min. 3 Lehrkräften, welche GS als Fach unterrichten in den Praxisschulen,
  • schriftliche Dokumentation auf Kärtchen während des Interviews (Strukturlegetechnik; auf eine videografische Aufnahme wird verzichtet, da die Transkription (der Gebärdensprachen) den zeitlichen Rahmen sprengen würde),
  • eine vergleichende und strukturierende Analyse der Inhalte/Kärtchen nach Bedarfe,
  • Feedback in einem abschliessenden Papier an die Interviewproband:innen der gefundenen Bedarfe.

2.    Feedback für Durchführung mit einer exemplarischen Unit

Eine erste, exemplarische Unit, schon online, soll ausprobiert werden. Dafür bekommen die Lehrkräfte (Ca. 30 in allen Ländern zusammen) eine Einführung (weiteres nationales Meeting, 12/2023), dann sollen die Lehrkräfte die Unit in der eigenen Schule durchführen und Feedbacks geben. Dazu bedarf es

  • eines Feedbackpapier, mit Fragen zur Einsetzbarkeit der Unit und Rückmeldemöglichkeiten, welches die Lehrkräfte bei der Durchführung nach jeder Lektion ausfüllen und dem nationalen Forscherteam zurückgeben,
  • diese Feedbackpapiere werden gesammelt und das Forscherteam leitet Kriterien daraus ab, diese bilden die Grundlage für eine Feedbackrunde,
  • ein zweites, Gruppeninterview (=Feedbackrunde mit ca. 3 Lehrkräfte, zweites nationales Meeting, 1/2024) in nationalen Gruppen zur qualitativen Validierung der Kriterien.
  • Mit den Rückmeldungen/Kriterien wird die Unit überarbeitet und bei der Generierung von weiteren Units genutzt.

3.    Qualitative Evaluation

Sind alle Units gefertigt und übersetzt, werden diese in der Praxis evaluiert. Es gibt dafür wiederum eine Einführungsveranstaltung (nationales Meeting 12/2024, Praxisschule und evt. weitere Lehrkräfte von weiteren Zentren, auch aus der französischen Schweiz, ca. 10 Lehrkräfte für DSGS und LSF), danach werden einige Units in jeder Klasse erprobt (bis 3/2025). Zusätzlich wird an diesem Meeting das Evaluationsjournal erklärt.

  • Ein Evaluationsjournal wird durch das Forscherteam vorbereitet, zur Einsetzbarkeit der Units und der Website und Rückmeldemöglichkeiten (Kriterien der vorherigen Feedbackrunde werden eingearbeitet), welches die Lehrkräfte bei der Durchführung nach jeder Lektion ausfüllen (in Sätzen und Fotobeispielen) und dem nationalen Forscherteam zurückgeben,
  • im Evaluationsjournal wird auch die Rückmeldung der SuS eingearbeitet (Smiley),
  • ein Teil des Evaluationsjournals ist für eine Peerbeobachtung reserviert; ein/e Lehrerkolleg:in beobachtet eine Lektion einer Unit und gibt dort Rückmeldung zusammen mit der Lehrkraft.
  • Diese Evaluationsjournale werden mit einer evaluativen qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2012) analysiert; dies bietet die Grundlage für einen Leitfaden für ein drittes Fokusgruppeinterview am transnationalen Meeting (M4) in der gleichen Weise wie in der Bedarfsanalyse.

Für eine quantitative Evaluation der Kompetenzsteigerung der SuS liegen leider keine GS-Tests vor, somit wird diese Möglichkeit ausgeschlossen.

Zu erwartetende Ergebnisse

Mit der webbasierten PG für fünf Europäische Gebärdensprachen soll ein Werkzeug geschaffen werden, das Lehrkräfte im bilingualen Unterricht mit hörbeeinträchtigten und hörenden Schüler:innen unterstützt. Zudem kann die PG sprachvergleichend eingesetzt werden, da erstmals gleichzeitig die Sprachstrukturen fünf verschiedener Gebärdensprachen angeboten werden.

Literatur

  • Becker, C., Krausneker, V., Audeoud, M. & Tarcsiová, D. (2017). Bimodal-bilinguale Bildung für Kinder mit Hörbehinderung in Europa. Teil I: Erhebung des Ist-Standes. Das Zeichen, 105, 60 -72.
  • Erbasi, E., Hickson, L., Scarinci, N. (2017). Communication outcomes of children with hearing loss enrolled in programs implementing different educational approaches: A systematic review. Speech, Language and Hearing, 20, 102–121.
  • Hall, W.C., Levin, L.L. & Anderson, M.L. (2017). Language deprivation syndrome: a possible neurodevelopmental disorder with sociocultural origins. Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol, 52, 761–776. https://doi.org/10.1007/s00127-017-1351-7
  • Götze, L. (2010). Materialien für das Grammatiklehren und -lernen. (S. 1258-1263). In: H.-J. Krumm, C. Fandrych, B. Hufeisen & C. Riemer (Hrsg.), Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin: de Gruyter Mouton.
  • Marschark, M. & Spencer, P. (2010). The Oxford Handbook of Deaf Studies, Language, and Education. Oxford: University Press.
  • Mindt, D. (1981). Linguistische Grammatik, didaktische Grammatik und pädagogische Grammatik. Neusprachliche Mitteilungen, 34, 28-35.
  • Mitchell, R. & Karchmer, M. (2004). Chasing the mythical ten percent: Parental hearing status of deaf and hard of hearing students in the United States. Sign Language Studies, 4(2), 138-163.