Selbstbewusst für sich einstehen – nicht trotz, sondern mit der Hörbehinderung

Tagungsrückblick

Das Potenzial eines Menschen sollte stets im Mittelpunkt stehen. Doch auch der persönliche Umgang mit seinen Defiziten spielt eine entscheidende Rolle hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten. Das zeigte die BOTA Tagung. 

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Daniela Nussbaumer Titel Prof. Dr.

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Professorin für MINT-Lernen und -Lernentwicklung unter erschwerten Bedingungen

Aktivieren statt kompensieren – so lautete der programmatische Titel der Bodenseeländertagung für pädagogische Fachleute im Hörbehindertenwesen (BOTA), die dieses Jahr von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) in Zürich ausgerichtet wurde. «Der Titel versteht sich als Absage an eine defizitorientierte Sicht auf die Hörbehinderung», sagte Markus Wyss, der die Tagung mitorganisiert hatte: «Es geht darum, dass Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung ihr Handicap nicht verstecken, sondern selbstbewusst nach aussen tragen und beharrlich für ihre Rechte einstehen», so der Rektor der Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung in Zürich. Auf den Titel bezogen heisst das zum Beispiel: Ja, bestimmte Defizite eines Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung können zwar mittels eines Cochlea-Implantats kompensiert werden. Doch das darf nicht im Zentrum seiner Förderung und Unterstützung stehen. Vielmehr geht es darum, das ganze Potential eines Menschen zu aktivieren.

Zwischen Anpassung und Autonomie. Barbara Schmitz setzte genau dort an: «Wenn man als betroffene Person den Fokus auf solche Technologien setzt, verharrt man in einer passiven Rolle und ist zudem einem hohen Anpassungsdruck ausgesetzt.» Für Menschen mit einer Behinderung sei es aber ohnehin schwierig, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, so die Lehrbeauftrage der Universität Basel, die eine inzwischen erwachsene Tochter mit einer kognitiven Beeinträchtigung hat. Letztlich gehe es darum, sich im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Autonomie zu positionieren: So viel Anpassung wie nötig, so viel Autonomie wie möglich. Schmitz plädierte für das Konzept der Adaption und verband damit die Fähigkeit, sich auf verschiedene Bedingungen einstellen und sich an sie anpassen zu können. Dabei spiele der eigene Umgang mit seinen Defiziten eine entscheidende Rolle: «Erfolgreich ist man dann, wenn man seine Beeinträchtigung positiv in sein Selbstbild integrieren kann», betonte Schmitz und führte einen Leitsatz an, der diese Haltung transportiere: «Ich möchte mit niemandem tauschen.»

Begrüssung zur BOTA 2022

Laut- und Gebärdensprache. Aber wie kommt man als Betroffener dorthin? Emanuel Lubart sah viel Potential in der Bilingualität. «Wer die Laut- und die Gebärdensprache beherrscht, hat viel mehr Möglichkeiten für soziale Beziehungen», so der gehörlose Projektleiter beim Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS). Und je mehr Beziehungen jemand pflegen könne, desto erfolgreicher die Teilhabe in der Gesellschaft. Die Bilingualität helfe aber auch dabei, kognitive Defizite zu verhindern, sei es beim Denken, Abstrahieren oder Auswendiglernen. Auch er bezog sich dezidiert auf die inhaltliche Leitlinie der Tagung: «Entscheidend ist es, alle Entwicklungsbereiche eines Menschen mit einer Hörbehinderung zu aktivieren – sprachlich, kognitiv, emotional, sozial», betonte Lubart.

Pseudo-Bilingualität. Es gibt also mehrere Gründe für die Bilingualität. «Trotzdem wird sie teilweise noch verhalten umgesetzt», sagte Emmanuel Gaillard. Der Projektverantwortlicher Projekt Bildung Romandie bei der SGB-FSS befragte Eltern über ihre Haltung zur Gebärdensprache. «Die meisten sind zwar offen und wollen sich engagieren», fasste er die Ergebnisse zusammen. Aber ihre echte Sorge würde eben immer noch der Entwicklung der Lautsprache gelten: «Lautsprachbegleitende Gebärden dienen häufig immer noch lediglich als provisorische Unterstützung, bis ein Cochlea-Implantat den Zugang zur Lautsprache erlaubt», sagte Gaillard. Diese Präferenz für die Lautsprache zeige sich darüber hinaus bei den Behörden: In kantonalen Zentren für gehörlose Kinder habe er es häufig nur mit hörenden Mitarbeitende zu tun, sodass er mitunter den Eindruck einer «Pseudo-Bilingualität» gewonnen habe.

Peter Bachmann, Organisationskomitee BOTA 2022, Barbara Fäh, Prof. Dr., Rektorin HfH, Silvia Steiner, Dr., Regierungsrätin und Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Brigitte Suter, Organisationskomitee BOTA 2022 (von links nach rechts)

Politik und Hochschulen. Die Politik müsse ihrer Verantwortung stärker gerecht werden, meinte auch Regierungsrätin Silvia Steiner in ihrer Begrüssung: «Chancengerechtigkeit zeigt sich in gesellschaftlicher Teilhabe», sagte sie. Und geht mit gutem Beispiel voran: So wird der Kanton Zürich künftig seine wichtigsten Dokumente in die Gebärdensprache übersetzen lassen. «Wir wollen die Betroffenen in ihrer Selbstbestimmung stärken», so die Bildungsdirektorin des Kantons Zürich. Diesen Ball nahm Barbara Fäh gleich auf: «Als spezialisierte Hochschule untersuchen wir zum Beispiel den Einfluss der Digitalisierung auf die Bildung», verwies die Rektorin der HfH auf ein konkretes Forschungsprojekt. «Und diese Bildung legt die Grundlage für die Aktivierung der Entwicklungsmöglichkeiten bei Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung», ergänzte sie und schlug damit den Bogen zurück zum Motto der Tagung.

Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., Wissenschaftskommunikation, HfH