Billie auf Kurve

Reportage

Die Schule Friedheim geht neue Wege. Wer hier über die Stränge schlägt, bekommt keine Strafe, sondern ein Gesprächsangebot.

Kontakt

Xenia Müller Titel Dr. phil.

Funktion

Senior Researcher

Annette Lütolf Belet Titel lic. phil.

Funktion

Senior Lecturer

Die Schule Friedheim liegt in Bubikon im Zürcher Oberland. Das Sonderschulheim ist auf Kinder und Jugendliche mit schweren Lern- und Verhaltensproblemen ausgerichtet. Wer hier unterrichtet wird und lebt, hat häufig enorme Schwierigkeiten, seine hohe Impulsivität zu kontrollieren. Gelingt es nicht, sind verbale Ausraster, Drohungen, Angriffe gegen Mitschüler und Lehrer oder andere Auffälligkeiten die Folge. Und trotzdem sagt Martin Jany, der Schulleiter, voller Überzeugung: «Irgendwann kommen alle unsere Jugendlichen, und sagen: Ich kann's jetzt».

Was ist das Erfolgsrezept der Schule Friedheim? Die dortigen Fachpersonen arbeiten mit dem Konzept der «Neuen Autorität». Was das konkret bedeutet, soll im Folgenden anhand von Billie gezeigt werden. Billie, eine 16-jährige Teenagerin, verbrachte mehr als drei Jahren im Friedheim. In dieser Zeit zeigte sie nicht nur schwere Auffälligkeiten, sondern war auch häufig «auf Kurve», wie es die Betreuer nennen, wenn sie wieder mal ausgerissen ist und tagelang nicht aufzufinden war. Nun steht Billie vor einem ungewissen Übergang ins Berufsleben.

Vier Fachpersonen der Schule Friedheim geben im Video-Interview einen Einblick in das Leben und Arbeiten mit Billie. Sie erzählen von speziellen Herausforderungen und unkonventionellen Lösungen. Doch zuerst die Frage: Wer ist Billie? Ganz gewiss eine äusserst kreative Jugendliche, wie die folgenden Zeichnungen und Briefe von ihr zeigen:

Doch diese künstlerische Ader ist nur eine Seite von ihr. Es gibt auch eine dunklere Seite, eine, welche die Fachpersonen in der Schule Friedheim vor immense Herausforderungen gestellt hat. Wie haben sie konkret reagiert, wenn Billie sie als «Arschloch» oder «Fotze» beschimpft hat? Was tun, wenn Billie den gespitzten Bleistift als Waffe benutzte? Wenn sie drei Tage lang auf Kurve war und nachts um zwei Uhr an die Scheibe eines Mitbewohners klopfte – und was wiederum sind Tabus?

Im Video-Interview lassen uns vier Personen hinter die Kulissen und in ihren Werkzeugkoffer blicken: Anna Kühne (Sozialpädagogin in der Wohngruppe Pfannenstiel), Kurt Mühlematter (Lehrer an der Oberstufe), Max Schläfli Bieri (pädagogischer Leiter) und Martin Jany (Schulleiter):

Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Billie auf Kurve: Wie die Schule Friedheim mit schweren Verhaltensproblemen umgeht» eingeblendet. Dann hört man eine Sprecherin. Das Interview wird geführt von Dr. Dominik Gyseler (Wissenschaftskommunikation HfH). Die Gesprächspartner sind Max Schläfli Bieri (Pädagogischer Leiter), Kurt Mühlematter (Lehrer Oberstufe), Martin Jany (Schulleiter) und Anna Kühni (Sozialpädagogin).

Billie auf Kurve: Wie die Schule Friedheim mit schweren Verhaltensproblemen umgeht

Video-Abspann in Textform

Billie auf Kurve: Wie die Schule Friedheim mit schweren Verhaltensproblemen umgeht

  • Gesprächsgäste: Anna Kühni (Sozialpädagogin), Kurt Mühlematter (Lehrer Oberstufe), Max Schläfli Bieri (Pädagogischer Leiter) und Martin Jany (Schulleiter)
  • Gesprächsleitung: Dr. Dominik Gyseler (Wissenschaftskommunikation HfH)
  • Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
  • Konzeption und Regie: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler

Die Gespräche zeigen: Das Fundament ist die Beziehung. Nicht abbrechen lassen, sondern dran bleiben. Das geht nicht ohne Kooperation zwischen den Fachpersonen: «Ich habe gelernt, dass ich das Problem nicht sofort und nicht alleine lösen muss», fasste Kurt Mühlematter dies zusammen. Die Interviews zeigen aber auch: Im Lichte des Tuns ist auch immer ein Schatten des Unterlassens erkennbar: Man tut das eine und unterdrückt das andere. Was unterdrückt wird, sind zum Beispiel Reflexe auf Herausforderungen: strafen, disziplinieren, bevormunden.

Die Grafik zeigt, welche Faktoren im Konzept Neue Autorität wichtig sind: Konsequent sein statt Konsequenzen ankündigen, eine Beziehung anbieten statt unterbrechen, im Team arbeiten statt alleine, einen Konflikt abkühlen lassen statt ihn befeuern und jemandem Zeit geben statt ihn aufzugeben.

Beschreibung der Grafik. Folgende Faktoren sind wichtig für das Konzept «Neue Autorität»: Konsequent sein statt Konsequenzen ankündigen, eine Beziehung anbieten statt unterbrechen, im Team arbeiten statt alleine, einen Konflikt abkühlen lassen statt ihn befeuern und jemandem Zeit geben statt ihn aufzugeben.

Ist es vorstellbar, Jugendliche wie Billie in der Regelschule zu fördern? Die Fachpersonen der Schule Friedheim haben hierzu eine klare Meinung: Nein, auf gar keinen Fall. Billie sprenge die Grenzen des Systems. Eine andere Frage ist es, inwieweit die «Neue Autorität» auch in der Regelschule funktioniert. Die HfH-Studie «Bedarfsanalyse zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in der Schule» zeigt: Das Konzept wird in der Praxis als ausserordentlich hilfreich empfunden. Einer der Hauptgründe ist, dass es eine ganze Philosophie umfasst, die das gesamte Team mit auf den Weg und in die Verantwortung nimmt. Wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit der «Neuen Autorität» liegen jedoch noch keine vor. Die Schule Friedheim und die HfH sind nun eine Kooperation eingegangen, in der zum Beispiel Fragen des Transfers in die Praxis näher untersucht werden sollen. Mehr zum Pilotprojekt mit der Schule Friedheim

Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., Wissenschaftskommunikation HfH