Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz

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Abbildung 1: Handlungsfelder der Förderung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit ASS

Abbildung 1: Handlungsfelder der Förderung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit ASS

Der folgende Text wurde im Heft 7&8 (2019) der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik (SZH) veröffentlicht und wird an diesem Ort mit Genehmigung der Redaktion zur Verfügung gestellt.

Zusammenfassung

Im Oktober 2018 hat der Bundesrat einen richtungsweisenden Bericht zur Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) in der Schweiz Link zum Bericht des Bundesratesverabschiedet. Mit der folgenden Stellungnahme soll zunächst in die Hintergründe sowie die zentralen Inhalte des Berichtes eingeführt werden. In einem zweiten Schritt erfolgt eine kritische Würdigung des Berichtes. Abschliessend werden aus der heilpädagogischen Perspektive ein Fazit und Empfehlungen formuliert.

Entstehungsgeschichte des Berichtes

Im September 2012 erfolgte die Eingabe des Postulats «Autismus und andere schwere Entwicklungsstörungen. Übersicht, Bilanz und Aussicht» durch Ständerat Claude Hêche. Die Anerkennung des Untersuchungsbedarfs durch den Bundesrat führte im Mai 2013 zur Ausschreibung eines Forschungsprojektes, das die Grundlage zur Beantwortung des Postulats bieten sollte. Dieses wurde von Herbst 2013 bis Herbst 2014 durch ein Forschungsteam der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich und der Haute école spécialisée de la Suisse occidentale Lausanne bearbeitet. Im Juni 2015 wurden der Forschungsbericht und ein darauf aufbauender Bericht des Bundesrates veröffentlicht. Im Mittelpunkt standen im Letzteren die im Forschungsbericht formulierten Empfehlungen zur Weiterentwicklung fachlicher Angebote der Diagnostik sowie der Förderung und Begleitung von Menschen mit ASS und ihrer Angehörigen. Für das weitere Vorgehen setzte der Bundesrat eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag der «Festlegung der Handlungsschwerpunkte und Umsetzungsplanung» hinsichtlich der Empfehlungen ein. Der nun veröffentlichte Bericht basiert primär auf den Ergebnissen der Tätigkeit dieser Arbeitsgruppe und benennt notwendige Massnahmen sowie Zuständigkeiten für deren Umsetzung.

Inhalte des Berichtes

Einleitend wird im Bericht als Zielsetzung die Verbesserung der Situation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Autismus-Spektrum-Störungen definiert: «Die hier vorgeschlagenen Handlungsschwerpunkte und Massnahmen sollen den Zugang zu qualitativ hochstehenden und anhaltenden Angeboten in der Diagnostik, Behandlung, Therapie, Beratung, Begleitung und Betreuung gewährleisten und somit für die Menschen mit ASS im Sinne eines inklusiven Zugangs die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben verbessern.» (S. 6)

Die inhaltliche Gestaltung basiert auf den dem Bericht zugrundeliegenden Empfehlungen des Forschungsberichtes zur Beantwortung des Postulats Hêche (Eckert et al., 2015). Nach einer Einführung in das Thema Autismus-Spektrum-Störungen werden im aktuellen Bericht im Hauptteil in 26 Themenbereichen insgesamt 60 Massnahmen formuliert, die den drei prioritären Handlungsschwerpunkten «Früherkennung und Diagnostik», «Beratung und Koordination» und «Frühintervention» sowie vier weiteren Handlungsbereichen (Integration im engeren Sinn, Integration im weiteren Sinn, Ausbildung von Akteuren, Datenlage) zugeordnet werden.Jeder einzelnen Massnahme werden sowohl für die Umsetzung und Finanzierung zuständige Instanzen, z. B. Kantone, Gemeinden, Invalidenversicherung (IV), Institutionen, als auch Prioritätsgrade (1 = hoch bis 3 = tief) zugewiesen. Des Weiteren werden entstehende Kosten für die verschiedenen Handlungsbereiche und Kostenträger geschätzt.Der Bericht schliesst mit einem Appell an die Kostenträger zur Realisierung der Vorschläge: «Der Bundesrat lädt alle betroffenen Akteure und dabei insbesondere die Kantone ein, anhand des vorliegenden Berichts und der darin enthaltenen Massnahmen Überlegungen zur konkreten Umsetzung der in ihrer Kompetenz liegenden Massnahmen voranzutreiben und wird seinerseits im Rahmen seiner Kompetenzen und Aufgaben dazu beitragen, die Situation von Menschen mit ASS kontinuierlich zu verbessern.» (S. 47)

Grundlagen der Begleitung und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit ASS

Den Ausgangspunkt für die folgende Analyse des Berichtes des Bundesrates bildet eine Zusammenstellung von Handlungsfeldern der Förderung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit ASS und ihren Angehörigen. Diese geben zum einen den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs wieder und greifen zum anderen die konkrete Situation in der Schweiz auf (Abb. 1). Der Begriff «Jugendliche» umfasst im Folgenden gemäss der Definition der Vereinten Nationen die Altersgruppe bis 24 Jahre¹.

Im vorliegenden Modell (siehe Abbildung 1) wird anhand der Etappen Vorschulzeit, Schulzeit und berufliche Integration deutlich, dass sich altersspezifische Massnahmen sowie altersunabhängige Angebote unterscheiden lassen. Während im Vorschulalter sowohl therapeutische als auch heilpädagogisch ausgerichtete Fördermassnahmen im Vordergrund stehen, rückt im Schulalter die pädagogische Förderung in den Mittelpunkt, flankiert von einzelnen therapeutischen Massnahmen, u. a. im Bereich des Sozialtrainings und der Psychoedukation. Im Jugendalter schliesslich gewinnen die Berufswahl, die berufliche Ausbildung und Tätigkeit sowie der Aspekt der Autonomieförderung, z. B. das selbstständige bzw. selbstbestimmte Wohnen, an Bedeutung.

Unabhängig von der Altersphase, zugleich in unterschiedlichen Intensitäten und Ausrichtungen, kann zudem den Bereichen der Diagnostik, Familienorientierung, Beratung und Koordination sowie der Professionalisierung involvierter Fachpersonen eine hohe Bedeutsamkeit zugesprochen werden.

Kritische Würdigung des Berichtes des Bundesrates

Der Bericht des Bundesrates gibt mit seinem umfangreichen Massnahmenkatalog einen differenzierten Überblick über die aktuelle Situation in der Schweiz sowie zahlreiche daran anknüpfende Handlungsnotwendigkeiten. Er berücksichtigt die Mehrzahl der im vorangehenden Modell benannten Handlungsfelder ebenso wie die bereits 2015 vom Bundesrat formulierten Empfehlungen, wenngleich in unterschiedlicher Intensität.

Mit der Formulierung von prioritären Handlungsschwerpunkten wird verdeutlicht, in welchen Arbeitsbereichen ein besonders dringlicher Optimierungsbedarf wahrgenommen wird. Die Verbesserung der Früherkennung und Diagnostik bildet diesbezüglich eine erste bedeutsame Massnahme, mit dem Ziel, eine möglichst früh einsetzende Förderung der Kinder und Begleitung ihrer Eltern zu ermöglichen.

Die Fokussierung auf frühe Interventionen als zweitem Handlungsschwerpunkt schliesst unmittelbar an die Früherkennung an. Im Vordergrund steht mit Bezug zur aktuellen Forschungslage der Ausbau intensiver Frühinterventionen. Gleichzeitig wird eine Optimierung weiterer Frühförderangebote empfohlen, insbesondere der Heilpädagogischen Früherziehung.

Beratung und Koordination sind ein weiterer prioritärer Handlungsschwerpunkt. Es wird festgehalten, dass diesbezüglich während der Kindheit und der Jugend ein grosser Bedarf besteht. Diesbezüglich wird das folgende, weitreichende Ziel formuliert: «Eltern, Angehörige, Selbstbetroffene (und Institutionen) finden eine ausreichende, koordinierte und kontinuierliche Beratung, Unterstützung und Begleitung für Therapien und Probleme in der Familie, Freizeit, Schule, Ausbildung, Arbeit und Wohnen durch Fachpersonen vor.» (S. 20)

Der Aufbau von spezifischen Kompetenzzentren zur Umsetzung dieses Zieles stellt einen der zentralen Innovationsvorschläge des Bundesrates dar. Die bislang häufig fehlende Kontinuität und Abstimmung von Beratungs- und Unterstützungsangeboten über die verschiedenen Altersphasen und institutionellen Kontakte hinaus bilden gemäss den aktuell vorliegenden Forschungsberichten eines der grössten Probleme in der Schweiz.

Neben den dargestellten, aus einer heilpädagogischen Perspektive in dieser Form weitgehend zu unterstützenden prioritären Handlungsschwerpunkte werden im Bericht des Bundesrates vier weitere Handlungsbereiche aufgeführt. Diese subsumieren wiederum teils sehr unterschiedliche Inhalte und Arbeitsfelder und sie werden mit Empfehlungen zu Massnahmen konkretisiert.

Das heilpädagogisch besonders relevante Handlungsfeld der pädagogischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einem besonderen Förderbedarf im Kontext von Kindergarten und Schule wird zum einen in der Kategorie «Integration im engeren Sinn» mit Massnahmen zur Förderung der schulischen Integration, zum anderen in der Kategorie «Integration im weiteren Sinn» mit Massnahmen zur Förderung im geschützten Bereich berücksichtigt. Positiv hervorgehoben werden kann, dass mehreren hoch relevanten Themenbereichen (Rahmenbedingungen, Übergänge, Methodeneinsatz, autismusspezifische Schulung der Fachpersonen, Inanspruchnahme von Beratungsangeboten) besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass der Förderung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen während der Schulzeit im Bericht des Bundesrates keine Priorität zugewiesen wird. Dies, obwohl die hohe Bedeutsamkeit dieser Massnahmen gerade für diese Altersgruppe belegt ist. Untermauert wird diese Feststellung durch eine vernachlässigte Thematisierung der Bedeutsamkeit des Handlungsfeldes der therapeutischen Massnahmen im Schulalter. Wenngleich diese im Anhang des Berichtes sehr differenziert zusammengefasst werden, fliessen sie nicht explizit in den ausführlichen Massnahmenkatalog ein.

Eine ähnlich kritische Bewertung lässt sich für das Handlungsfeld der beruflichen Integration formulieren. Inhaltlich werden zwar hochrelevante Aspekte der Berufsvorbereitung, Gestaltung von Übergängen und Bereitstellung von Unterstützungsangeboten als Bedarf identifiziert. So hält der Bundesrat im Bericht fest, dass er die Förderung der beruflichen Integration im Rahmen der Weiterentwicklung der IV als einen von zwei prioritären Handlungsschwerpunkten in der Kompetenz des Bundes ansieht. Welche Wege zu diesem Ziel beschritten werden sollen und welche Massnahmen nun ergriffen werden, ist jedoch nicht Teil des Berichts. Angesichts des von uns im Feld wahrgenommenen hohen Bedarfs an Unterstützung im Bereich der beruflichen Integration erscheint eine Konkretisierung der geplanten Aktivitäten notwendig.

Die weiteren im Bericht des Bundesrates formulierten Bereiche sind zum einen die umfeldbezogenen Handlungsfelder der Entlastung, der Freizeit und des Wohnens, zum anderen die professionsbezogenen Felder der Ausbildung von Akteurinnen und Akteuren sowie der Verbesserung der Datenlage. Für die umfeldbezogenen Handlungsfelder lässt sich festhalten, dass die benannten Massnahmen einige hilfreiche, konkret handlungsleitende Anregungen und Aufforderungen umfassen, die zu einer Verbesserung der aktuellen Situation sowohl der Kinder und Jugendlichen mit ASS als auch ihrer Angehörigen beitragen können. Zum Handlungsfeld der Ausbildung kann abschliessend positiv hervorgehoben werden, dass der autismusspezifischen Professionalisierung von Fachpersonen, die in die Förderung und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit ASS involviert sind, ein hoher Stellenwert zugesprochen wird, sowohl im Kontext der Aus- als auch der Weiterbildung.

Fazit und Empfehlungen

Zusammenfassend stellt der im Oktober 2018 verabschiedete Bericht des Schweizer Bundesrates ein wertvolles Dokument dar, das die aktiven Bestrebungen der letzten zwei Jahrzehnte zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz konsequent weiterverfolgt und darüber hinaus konkrete Optionen zur Optimierung der verschiedenen Handlungsfelder anbietet. Inwieweit die zahlreichen Empfehlungen nun zeitnah realisiert werden können, wird massgeblich von der Bereitschaft und Kooperation der für die Umsetzung und Finanzierung zuständigen Instanzen abhängen. Ein erster, grosser und wichtiger Schritt ist somit getan, etliche weitere müssen folgen. Für diesen Weg lassen sich unseres Erachtens gemäss den vorangehenden Ausführungen folgende Hinweise und Empfehlungen aus der heilpädagogischen Perspektive formulieren:

  1. Interdisziplinäre Kompetenzzentren. Die Empfehlung des Aufbaus von Kompetenzzentren bietet unseres Erachtens die grosse Chance, ein institutionsübergreifendes, interdisziplinäres und die verschiedenen Altersstufen zusammenführendes Angebot für unterschiedliche Adressatinnen und Adressaten (Betroffene, Eltern, Fachpersonen) zu konzipieren. Mit den Leitideen der Familienorientierung, interdisziplinären Kooperation und Individualisierung sowie den entsprechenden Erfahrungshintergründen kann die Heilpädagogik hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Wichtig erscheinen uns dabei zudem der Einbezug von Betroffenen sowie die Formulierung einer gemeinsamen Autismusvision bzw. -strategie.
  2. Kooperative Frühförderung. Im Frühbereich sehen wir den geeigneten Weg in einem kooperativen Miteinander der verschiedenen autismusspezifischen Frühförderangebote. Der im aktuellen System bestehenden Gefahr eines konkurrierenden Nebeneinanders von intensiven Frühinterventionen und weniger frequenten Angeboten der Heilpädagogischen Früherziehung und Logopädie gilt es – insbesondere mit Blick auf die aktuelle Praxis und den hohen Unterstützungsbedarf – entgegenzuwirken. Eine Erhöhung der Autismusspezifität der heilpädagogischen Angebote sowie die Kooperation der verschiedenen Akteurinnen und Akteure bei einer Entscheidungsfindung im Einzelfall stehen diesbezüglich im Vordergrund.
  3. Förderung und Begleitung im Schulalter. Für das Schulalter sehen wir eine Aufwertung der Bedeutsamkeit sowohl einer spezifischen pädagogischen Förderung als auch begleitender therapeutischer Massnahmen für die Zukunft als notwendig an. Die autismusspezifische Aus- und Weiterbildung von heilpädagogischen Fachpersonen und die Erhöhung der Autismuskompetenz und -freundlichkeit an Schulen sollten dabei einen Schwerpunkt bilden. Des Weiteren ist dem Ausbau begleitender autismusspezifischer Therapiemassnahmen, u. a. des Trainings sozialer und kommunikativer Kompetenzen oder der autismusspezifischen Sprachtherapie, eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.
  4. Berufliche Integration und Autonomienentwicklung. Unseres Erachtens sollte die Gestaltung der Bereiche Berufsvorbereitung, berufliche Integration und begleitende Autonomieentwicklung im Sinne einer selbstbestimmten Lebensgestaltung besonders berücksichtigt werden. Es braucht spezialisierte Coaching- und Beratungsangebote, die während der Ausbildung und im Rahmen der Arbeitstätigkeit nach Bedarf beansprucht werden können und auf die längerfristig zurückgegriffen werden kann. Daran anschliessend wird eine Vielfalt an Arbeitsmöglichkeiten für die heterogene Gruppe von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung benötigt – im ersten Arbeitsmarkt sowie im geschützten Rahmen. Wenngleich der Bericht des Bundesrates zum Bereich der beruflichen Integration grundsätzlich sehr sinnvolle Massnahmen formuliert, gilt es, eine Konkretisierung und Anpassung der Priorisierungen insbesondere aus der Perspektive von Betroffenen als Expertinnen und Experten in eigener Sache durchzuführen. Auch hier können Erfahrungen und Zugänge von heilpädagogischen Fachpersonen eine wichtige Rolle spielen.

Quelle

Eckert, A. Link zur Mitarbeiterübersicht: Andreas Eckert; Canonica, C.; Frei, R.; Lütolf, M. & Schreckenbach, J. (2019). Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz. Eine kritische Würdigung des Berichtes des Bundesrates aus einer heilpädagogischen Perspektive. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 7, 44-49.

Die Autorinnen und Autoren bilden das Team der Fachstelle Autismus der HfH Link zur Fachstelle Autismus.

Literatur

  • Bundesrat (2018). Bericht Autismus-Spektrum-Störungen. Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, Behandlung und Begleitung von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz. Bern: Schweizerische Eidgenossenschaft.
  • Eckert, A., Liesen, C., Thommen, E. & Zbinden Sapin, V. (2015). Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Frühkindliche Entwicklungsstörungen und Invalidität (Beiträge zur Sozialen Sicherheit). Bern: Bundesamt für Sozialversicherungen.

 ¹ Die UN-Generalversammlung definiert Jugend offiziell von 15 bis 24 Jahren (z. B. social.un.org/youthyear/docs/UNPY-presentation.pdf [Zugriff am 21.05.2019])