Spielen in der frühen Kindheit

Kategorie Institutsthema

Aus heil- und sonderpädagogischer Sicht bietet das Spielen als wichtigster Lernort eine einzigartige Ressource, um die Entwicklung aller Kinder zu fördern und die Eltern-Kind-Interaktion zu unterstützen. Im Spiel mit Gegenständen, Sprache und sozialer Interaktion eignen sich Kinder jene Kompetenzen an, die für Teilhabe in Schule und Gesellschaft bedeutsam sind.

Kontakt

Christina Koch Titel Prof.

Funktion

Professorin für Heilpädagogik der Frühen Kindheit / Leiterin Master Heilpädagogische Früherziehung

Kolja Ernst

Funktion

Senior Lecturer

Kinder sind mit Begeisterung im Spiel dabei und eignen sich selbstmotiviert durch Nachahmung, Ausprobieren und Wiederholen «die Welt» an, das heisst alle für das Leben notwendigen Fähigkeiten. Sie erlangen Informationen über Gegenstände und Tätigkeiten, üben sich in Beziehung, ahmen Alltagssituationen nach und stellen sich Herausforderungen. Das Kind spielt also «…um des Spielens selbst willen[s]» (Sauerbrey 2021, S. 27). Im Spiel erleben sie einen sogenannten «Flow»: Die Tätigkeit allein macht Freude, nicht der Zweck.

In der deutschen Sprache und im Schweizerdeutschen gibt es nur einen einzigen Begriff für «spielen» und «Spiel». In praktisch allen anderen Sprachen finden sich dazu mindestens zwei, beispielsweise auf Englisch steht der Ausdruck «game» für das Spiel(-en) nach Regeln, Gesellschaftsspiele und Online-Games; der Ausdruck «play» steht hingegen für das freie Spielen, um welches es im Folgenden geht. Im Institutsthema werden Informationen zur Spielentwicklung und zur Spielbegleitung bei Kindern mit und ohne Beeinträchtigungen zur Verfügung gestellt sowie Weiterbildungsmöglichkeiten aufgezeigt. Folgende Fragen beschäftigen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis:

  • Was macht das Spielen so wertvoll?
  • Wie kann man Eltern oder Fachpersonen den Sinn des Spiels erklären?
  • Welches Spielmaterial ist anregend, um den Übergang vom Funktions- zum Symbolspiel anzuregen?
  • Wann ist Spielen lustvolles Lernen oder gut getarnte Förderung?
  • Kann man noch von Freispiel reden, wenn die Fachperson vorgibt, was gespielt werden kann?

Spielen lernen? Zweijährige Kinder spielen anders als vierjährige. Anhand der nachfolgenden Skizzierung von vier Phasen der Spielentwicklung wird sichtbar, welche Kompetenzen das Kind im Spielen erwirbt. Diese Spielphasen treten häufig nicht in reiner Form auf, sondern überlagern sich oder treten nacheinander auf. So kann bei einem neuen Gegenstand für kurze Zeit anfänglich das Explorieren wieder im Vordergrund stehen. Der «Wettkampfgeist», im Sinn von sich miteinander messen, entwickelt sich frühestens ab vier Jahren. Kinder mit Beeinträchtigungen durchlaufen die Spielphasen in der gleichen Reihenfolge. Die Dauer kann jedoch deutlich variieren. So lassen sich zum Beispiel Kinder mit kognitiven und/oder sprachlichen Beeinträchtigungen gerne etwas mehr Zeit in der funktionellen Phase.

Spielentwicklungsphasen

  • Das Explorationsspiel. Das Kind experimentiert im ersten Lebensjahr zunächst mit dem eigenen Körper. Hier kann das sogenannte «Mouthing» beobachtet werden, bei welchem die kleinen Kinder erst ihre Hände, später auch Gegenstände in den Mund nehmen und erkunden. Dadurch und über das erste Greifen lernen sie unterschiedliche Formen, Beschaffenheiten und Eigenschaften von Gegenständen kennen. Bald werden die Erfahrungen durch aktives Greifen, Wegwerfen, Schlagen und Schütteln erweitert. Das Kind will herausfinden, was man mit einem Gegenstand machen kann und wie dieser beschaffen ist. Beim Schütteln gibt zum Beispiel die Rassel ein Geräusch von sich. Nach einigen Wiederholungen erkennt das Kind, dass es selbst dieses verursacht. Ein erstes Selbstwirksamkeitsempfinden entsteht.
  • Das Funktions- oder Übungsspiel. Das Kind erkennt, dass gewisse Gegenstände für eine bestimmte Handlung gebraucht werden: Die Tasse ist zum Trinken da, die Bürste zum Kämmen. Der Gegenstand bestimmt die typische Funktion, die das Kind auch bei Erwachsenen oder anderen Kindern beobachten kann. Dies probiert das Kind stets zuerst an sich aus, bevor es erkennt, dass der Gegenstand universell in seiner Funktion ist. Das Kind führt den Löffel nun auch zum Mund der Mutter oder der Puppe.
  • Das Symbolspiel. Das Kind hält die Tasse, den Löffel an den Mund der Puppe – doch nun schmatzt die Puppe oder gibt andere Geräusche von sich. Die Puppe wird «lebendig» und somit zu etwas Eigenständigem. Die ersten Handlungsabfolgen geschehen zufällig oder nachahmend. Handlung für Handlung wird im sequentiellen Symbolspiel aneinandergereiht: Die Puppe isst, die Puppe trinkt, die Puppe wird im Kinderwagen umhergefahren. Erst später geht es nicht mehr um den Gegenstand und seine Funktion, sondern um die Vorstellung von Handlungsabläufen, und somit um erste Geschichten. Anfangs sind die Gegenstände für die Kinder ausschlaggebend. Mit zunehmendem Alter ist dies auch mit entfremdeten Materialien oder ohne Materialien möglich.
  • Das Rollenspiel. Die Geschichten werden miteinander entwickelt, abgesprochen und verhandelt, Abläufe werden definiert und Rollen vergeben: Bist du heute der Polizist oder ich? Bist du in der Geschichte mit dem Velo oder zu Fuss unterwegs?

Kinder mit Beeinträchtigungen durchlaufen die Spielphasen in der gleichen Reihenfolge. Die Dauer kann jedoch deutlich variieren.

Mitspielen? Die Spielfreude der Fachperson gilt als Grundvoraussetzung, um das Spielen professionell begleiten zu können. Es hilft also die eigene Spielfreude (wieder) zu entdecken und bewusst zu unterstützen. Die Spielbegleitung bei Kindern mit einer komplexen Beeinträchtigung hat die genaue Beobachtung der Spieltätigkeit des Kindes als Ausgangspunkt: Das Erkennen, Aufnehmen sowie die passenden Reaktionen auf kleinste Bewegungen sind sowohl Gelingensbedingung als auch Herausforderung im gemeinsamen Spiel.

Ebene Kind, Eltern und Fachperson

(Mit-)spielen als professionelle Tätigkeit im Kontext der Heilpädagogik der frühen Kindheit folgt unterschiedlichen Intentionen und ist alles andere als ein Kinderspiel. Es setzt spezifische Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen und Fachwissen voraus. Die Spielbegleitung lässt sich sowohl auf der Ebene Kind als auch auf der Ebene der Erwachsenen beschreiben.

Ebene Kind. Bezogen auf das Kind ist die Spielbegleitung im Kontext der Heilpädagogik der frühen Kindheit an drei unterschiedlichen Intentionen ausgerichtet. Als Fachperson ist es bedeutsam sich bewusst zu sein, welche Intention mit dem gemeinsamen Spiel verfolgt wird. Dieses Bewusstsein ist die Grundlage, die man als Spielpartner:in im Rahmen der Spielbegleitung mitbringen muss.

  • Förderung zum Spiel. Dabei geht es um die Unterstützung beim Erwerb von grundlegenden Kompetenzen, welche das Kind zum Spielen benötigt. Zum Beispiel: Blickkontakt, Aufmerksamkeitsfokussierung, Kommunikation
  • Förderung im Spiel. Die Erweiterung von Spielkompetenzen durch die Gestaltung und Begleitung der Spielsituation steht im Vordergrund. Zum Beispiel: Turn-Taking, symbolische Handlungen
  • Förderung durch das Spiel. Die spielerische Förderung als dritte Intention fokussiert auf das Anregen von Entwicklungsprozessen bestimmter Fähigkeiten. Zum Beispiel: Sprachentwicklung, motorische Fähigkeiten, mathematische Vorläuferfertigkeiten

Ebene Eltern. Die Grundlage der Spielbegleitung auf der Ebene Eltern ist die intuitive elterliche Kompetenz, feinfühlig und abgestimmt auf den Entwicklungsstand des Kindes und die jeweilige Spielsituation zu agieren und zu reagieren und so das Kind in seiner Entwicklung durch das Spielen zu stärken. Aus unterschiedlichen Gründen kann diese intuitive elterliche Kompetenz jedoch irritiert und Eltern dadurch verunsichert sein. Hier setzt die professionelle Spielbegleitung an.

  • Eltern können in ihrer Interaktion mit dem Kind gestärkt werden, was sich wiederum positiv auf die Entwicklung ihres Kindes auswirkt. Die Bindung und Selbstwirksamkeitserwartung sowohl des Kindes, der Geschwister als auch der Eltern erfahren eine zusätzliche Stärkung, wenn das gemeinsame Spiel als positiver Moment erfahren wird.
  • Unter Playfulness versteht man die Qualität des kindlichen Spiels in Bezug auf die Bereitschaft, Fähigkeit und Freude, sich auf das Spiel einzulassen. Neuere Publikationen richten den Blick auch auf die elterliche Playfulness.

Ebene Fachperson. Die erwähnten Kompetenzen sind im Rahmen der Heilpädagogik der frühen Kindheit jedoch nicht nur auf der Ebene der Kinder und der Eltern von Bedeutung, sondern gelten auch auf der Ebene der Fachpersonen als Grundvoraussetzungen für eine gelungene Entwicklungsförderung.

  • Die Kompetenz, in ein gemeinsames Spiel mit Freude und Eifer und dennoch erwartungsfrei einzutauchen, mitzuspielen, sich als Spielpartner:in einzubringen und gleichzeitig die Entwicklungsthemen des Kindes respektive der Familie stets im Blick zu haben, ist eine grosse Kunst.
  • Das freie Spielen ist nur bedingt planbar und nicht vorhersehbar. In der Spielbegleitung orientieren sich die Fachpersonen vorrangig an der Spieltätigkeit des Kindes. Ein genaues Beobachten gilt als Einstieg ins Spiel. Eine bewusst gewählte, anschlussfähige Spielhandlung stellt den Startpunkt des gemeinsamen Spiels dar, welches einem gemeinsamen Tanz gleicht.
  • Beim Spielen bewegt man sich als Fachperson, als mitspielende Person, auf einem Kontinuum zwischen Führen und Folgen, Mitgestalten und Mittragen, Bestätigen und Irritieren, Fragen und Antworten. Alle Spielpartner:innen können ihre Ideen, Spiel- sowie Kommunikationsbeiträge einbringen. Ein gemeinsames dialogisches Spiel entsteht.

Die Spielfreude der Fachperson gilt als Grundvoraussetzung, um das Spielen professionell begleiten zu können.

Wissen über Spielen erwerben? Möchten Sie mehr über das Spielen aus der Sicht der Kinder, Eltern sowie Fachpersonen erfahren? In den Bereichen Aus- und Weiterbildung sowie Dienstleistungen gibt es Möglichkeiten, die eigenen Kompetenzen zu erweitern.

Aus- und Weiterbildungsangebote

  • Ausbildung/Weiterbildung. In den Studiengängen Logopädie, Psychomotoriktherapie (PMT) und Heilpädagogische Früherziehung (HFE) wird das Spielen als eigenes Thema abgehandelt. Das Modul «P4_02 Grundlagen der Heilpädagogischen Früherziehung» kann im Rahmen des Laufbahnmodells Heilpädagogische Früherziehung als Weiterbildung besucht werden.
  • Dienstleistung. Weiterbildungen oder Beratungen können für das gesamte Team massgeschneidert gebucht werden. Fachpersonen mit einer Expertise in Spielentwicklung und Spielbegleitung stehen gerne zur Verfügung.
  • Referate. An der internationalen Fachtagung Basale Stimulation in Bern haben Expert:innen der HfH im Jahr 2022 zum Thema «Berührt werden und sein im Spiel» referiert und konnten den Teilnehmenden wertvollen Input mit auf den Weg geben.

Fachstelle Heilpädagogik der Frühen Kindheit

Haben Sie Fragen zur Entwicklung, zu Teilhabe und Inklusion in der frühen Kindheit? Die Fachstelle richtet den Blick auf die ersten Lebensjahre, in welchen entscheidende Entwicklungsschritte passieren und die Grundlage für lebenslanges Lernen gelegt wird.

Die Fachstelle Heilpädagogik der Frühen Kindheit bildet einen Zusammenschluss von Expertinnen und Experten, die sich an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik mit der frühen Kindheit beschäftigen. Wir zeichnen uns aus durch Fachwissen in den Bereichen Heilpädagogische Früherziehung, Logopädie, Psychomotoriktherapie und Forschung im Frühbereich. Zur Fachstelle

Literaturhinweise