ICT for Inclusion: Von Technik und Teilhabe

Kategorie Institutsthema

Wie können Technologien inklusives Lernen unterstützen? Digitale Medien und Technologien bieten der Heil- und Sonderpädagogik neue Möglichkeiten für die Gestaltung chancengerechter Bildung.

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Ingo Bosse Titel Prof. Dr.

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Professor für ICT for Inclusion

Welche Potenziale hat die Digitalisierung für den inklusionsorientierten Unterricht? Die Digitalisierung kann dazu beitragen, die Umsetzung von Inklusion zu erleichtern. Digitale Teilhabe ermöglicht – unabhängig von Bildungsfragen – die Teilhabe an der Peer-Kultur. Soziale Akzeptanz ist zunehmend von Medienkompetenz abhängig, wenn zum Beispiel alle Schüler:innen einer Klasse ein bestimmtes Spiel online spielen oder den Chat nutzen, um zu kommunizieren und Kontakte zu pflegen. Medien sind also nicht Verursacher sozialer Ungleichheit, aber sie können durchaus als Verstärker wirken. Folglich: Die Potenziale der Digitalisierung sind vielfältig und besonders für junge Menschen wichtige Voraussetzung, um an einer digitalen Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben zu können.

Digitale Ungleichheiten und Benachteiligungen werden auch als «Digital Divide» oder digitale Kluft bezeichnet. Es werden drei Ebenen unterschieden (vgl. Bosse/ Sponholz 2023):

  • Unterschiede beim Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologien
  • Unterschiede in der Nutzungsweise digitaler Medien (in Abhängigkeit zu Motivation, Einsatzzwecken, individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Wissen über die Nutzung)
  • Unterschiede von «Outcomes», durch Medieneinsatz und der durch die Nutzung generierten «life chances» (Ragnedda und Ruiu 2018)

Mediennutzung von Schüler:innen

Als Grundlage für medienpädagogische Entscheidungen können Daten zur aktuellen Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen aus der JAMES-Studie (Schweiz) und der JIM-Studie (Deutschland) dienen:

  • Das Smartphone ist das am häufigsten genutzte Medium. Der mediale Alltag der Jugendlichen ist stark durch die Handy- und Internetnutzung geprägt.
  • Instagram, YouTube, Snapchat und TikTok sind die am häufigsten genutzten sozialen Netzwerke. Mädchen sind Trendsetterinnen, was die Nutzung neuer sozialer Medien betrifft. Aktuell nutzen sie Pinterest und TikTok stärker, das war 2014 auch bei Instagram der Fall (vgl. Külling et al. 2022).
  • Kinder und Jugendliche spielen zudem durchschnittlich 109 Minuten täglich digitale Spiele (Medienpädagogischer Verbund Südwest 2022).
  • Zudem zeigen beiden Studien, dass soziale Teilhabe zunehmend von Medienkompetenz abhängig ist: Die Kommunikation mit Gleichaltrigen erfolgt via soziale Netzwerke.

Eine aktuelle Studie zur Mediennutzung von Förderschüler:innen mit Körperbehinderungen zeigt, dass ihr Mediennutzungsverhalten im Wesentlichen demjenigen der gleichaltrigen Kinder und Jugendlichen ohne Behinderung entspricht. Im Vergleich nutzen sie jedoch deutlich seltener soziale Medien (Sponholz und Boenisch 2021).

Wie kann eine Kultur der Digitalität für alle Schüler:innen gestaltet werden? Dafür sind drei Grundprinzipien die Voraussetzung: die digitale Barrierefreiheit, das Universal Design for Learning sowie der Einsatz assistiver Technologien.

Digitale Barrierefreiheit

Für das Internet ist digitale Barrierefreiheit international in den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1) festgehalten, die kontinuierlich weiterentwickelt werden. Die Richtlinien wurden in zahlreichen Ländern gesetzlich übernommen. Folgende vier Kriterien sind ausschlaggebend:

  • Wahrnehmbarkeit: Inhalte müssen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie auf verschiedenen Wegen wahrgenommen werden können, beispielsweise auch mithilfe von Vorlese-Software, Hochkontrast-Einstellungen, Untertitelung oder Gebärdensprache.
  • Bedienbarkeit: Die Komponenten müssen ohne Mausklick angewählt werden können. Ist die Bedienbarkeit mit der Tastatur sichergestellt, ist in der Regel auch die Bedienbarkeit mit diversen technologischen Hilfsmitteln gegeben (zum Beispiel Switch, Mundmaus, Eye Tracking oder Sprachsteuerung).
  • Verständlichkeit: Handhabung und Information müssen verständlich sein.
  • Robustheit: Die Inhalte müssen funktionieren, interpretierbar sein und standhalten, auch wenn mit technologischen Hilfsmitteln darauf zugegriffen wird.

Bei der Auswahl von Webseiten für den Unterricht stellt sich die Frage, inwieweit diese diesen Anforderungen genügen. Die HfH-Website beispielsweise ist ebenfalls weitgehend barrierefrei und wurde letztes Jahr zertifiziert.

Universal Design for Learning

Dabei handelt es sich um ein pädagogisches Konzept, um mehr Technologie und Digitalisierung in den Unterricht zu integrieren. Der Gestaltungsansatz orientiert sich am Menschen und will Medien für alle zugänglich machen. In der Schule sollen Stigmatisierung und Ausschluss durch die Gestaltung von Medien vermieden werden. Auch digitale Umgebungen sollen so gestaltet sein, dass sie von allen Schülerinnen und Schülern ohne weitere Anpassung benutzt werden können. Universal Design for Learning ist ein grundlegendes Prinzip für alle Schüler:innen – und nicht speziell für Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Zahlreiche barrierefreie Funktionen sind im iPad als Unterrichtsmedium integiert. Das Webinar «Das iPad als Schweizer Taschenmesser der Inklusion» bietet eine Übersicht über die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten im Unterricht.

Einsatz assistiver Technologien

Der Einsatz assistiver Technologien hängt eng mit den ersten beiden Grundprinzipien zusammen. Ein Beispiel für assistive Technologien sind Talker, also Sprachcomputer, die Bekanntheit über den verstorbenen Physik-Nobelpreisträger Stephen Hawking erlangt haben. Eine der aktuell bekanntesten Talker-Nutzerinnen im deutschsprachigen Raum ist die Erziehungswissenschaftlerin Kathrin Lemmler, die mit den Augen spricht. Zum Beitrag auf der Plattform ICT for Inclusion

Wie kann inklusionsorientierter Unterricht geplant, durchgeführt und reflektiert werden? Es gilt Unterrichtssituationen zu gestalten, die im Sinne des Universal Design for Learning das Ausüben unterschiedlicher Aktivitäten erlauben. Wichtigstes Prinzip ist, dass Medien und Technologien so gestaltet sind, dass eine selbstständige und selbstbestimmte Nutzung für alle möglich ist (vgl. Bosse 2022, Bosse/ Sponholz 2023). Dies kann beispielsweise bedeuten, dass ein Film neben einer Audiodeskription auch über Untertitel verfügen muss. Ähnlich wie bei der Nutzung der ICF für die Förderplanung geht es darum, Bildungssituationen zu planen, durchzuführen und zu evaluieren:

  • Anforderungen von Situationen antizipieren und analysieren
  • Funktionsfähigkeit des Kindes in Bezug auf die geplante Situation einschätzen
  • Strategien entwickeln zur Anpassung der Situationen (Hollenweger 2019, S. 70)

ICT for Inclusion an der HfH. Die Digitalisierung gehört zu den Schwerpunktthemen der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Das Institut für Lernen unter erschwerten Bedingungen treibt die Entwicklungen an der HfH und im Praxisfeld voran durch vielfältige Tätigkeiten im Bereich ICT:

  • Die Expert:innen der Fachstelle ICT for Inclusion stehen bei Fragen zu assistiven Technologien zur Verfügung. Das Angebot (Kurzberatungen) ist kostenlos. Auf der Plattform ICT for Inclusion werden zudem spezifische Artikel für die Praxis der Heilpädagogik, Logopädie und Psychomotorik veröffentlicht.
  • In der Lehre ist das Institut für das transversale Thema ICT for Inclusion verantwortlich, dazu gehört auch die übergreifende Lernumgebung ICT for Inclusion, welche im Master Schulische Heilpädagogik obligatorisch ist.
  • Die Weiterbildung «ICF-basierte Diagnostik zu Assistiven Technologien» (Webinar) unterstützt Teilnehmende bei der Planung, Durchführung und Reflexion digitaler Teilhabe.

Literaturhinweise

  • Bosse, I. (2024). Digitalisierung und Inklusion. In: Markowetz, R. (Hrsg.). Studienbuch Inklusion. Beltz/ Juventa (in Druck).
  • Bosse, I. & Sponholz. J. (2023). Digitale Teilhabe im Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung. Ermittlung von Umweltfaktoren für einen digital geprägten Unterricht entlang der ICF. In: Betz, J. & Schluchter, J.-R. (Hrsg): Schulische Medienbildung und Digitalisierung im Kontext von Behinderung und Benachteiligung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Külling, C., Waller, G., Suter, L., Willemse, I., Bernath, J., Skirgaila, P., Streule, P., & Süss, D. (2022). JAMES – Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz. Zürich: Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
  • Hollenweger, J. (2019). ICF als gemeinsame konzeptuelle Grundlage. In: Luder, R., Kunz, A. & Müller Bösch, C. (Hrsg.): Inklusive Pädagogik und Didaktik. 1. Auflage. Bern: hep, der Bildungsverlag, S. 28-53.
  • Medienpädagogischer Verbund Südwest (2022). JIM 2022 Jugend, Information, Medien Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. JIM-Studie 2022 (mpfs.de) (08.01.2023)
  • Siu, Y.-T. (2020). Access Technology for Blind and Low Vision Accessibility. Unter Mitarbeit von I. Presley. 2nd ed. Louisville, Kentucky: American Printing House for the Blind. (08.01.2023).
  • Sponholz, J. & Boenisch, J. (2021). Digitale Mediennutzung von Jugendlichen im Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung. Zeitschrift für Heilpädagogik 72, S. 592–603.