INSIGHT – Inklusionsorientierte heil- und sonderpädagogische Professionalität

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Das Forschungsprojekt INSIGHT ist ethnografisch angelegt. Wir untersuchen im Studium und in der beruflichen Praxis in situ, ob und wie angehende Schulische Heilpädagog:innen eine inklusionsorientierte Professionalität ausprägen können. Darunter verstehen wir das Vermögen, in Situationen zu erkennen, wie habitualisierte und unkritische Denk- und Handlungsgewohnheiten zu Ausschluss und Behinderung führen. Eine solche Professionalität erlaubt es, Schule und Unterricht so zu transformieren und mitzugestalten, dass die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten vermieden und Barrieren für von Behinderung und Exklusion bedrohten Schüler:innen abgebaut werden können.

Projektleitung

Daniel Hofstetter Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für Professionalisierung und Kompetenzentwicklung

Annette Koechlin Titel MA

Funktion

Senior Lecturer

Fakten

  • Dauer
    02.2022
    08.2025
  • Neue Projektnummer
    5_64

Ausgangslage: (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten und inklusionsorientierte Professionalität

Studien belegen, dass die soziale Selektivität in der Schweiz sehr hoch ist. Der Schulerfolg hängt stark von der sozialen Herkunft ab und weitaus weniger von sogenannten Leistungen und Begabungen, wie man es vielleicht vermuten würde (Becker u. Schoch, 2018). Ethnografische Untersuchungen zeigen eindrücklich auf, wie das Schulpersonal an der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten beteiligt ist und soziale Ungleichheiten im Bildungssystem in schulische Leistungen überführt werden: Etwa indem Schüler:innen mit Migrationshintergrund und aus weniger privilegierten Verhältnissen vermehrt heil- und sonderpädagogischen Massnahmen zugewiesen oder Schüler:innen mit gleicher Leistung beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I je nach Status der Eltern in mehr oder weniger prestigeträchtige Abteilungen empfohlen werden (Hofstetter, 2017). Die Schulische Heilpädagogik war in der Vergangenheit an der (Re-)Produktion sozialer Ordnungen beteiligt – und sie ist es noch heute (Weisser, 2017). Denn noch heute legitimieren Labels und etablierte Kategorien wie «sonderpädagogischer Förderbedarf», «Lernbehinderung» oder «Aufmerksamkeitsstörung» das heilpädagogische Handeln. Die Heilpädagogik begründet auf diese Weise ihre Profession durch die Zuständigkeit für eine als «von der Norm abweichend» bezeichnete Gruppe von Schüler:innen. Heilpädagogisches Handeln im 21. Jahrhundert hätte jedoch den Anspruch, so zu einer «Schule für alle» beizutragen, dass Behinderungen und Benachteiligungen vermieden und abgebaut werden. Vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheiten ist deshalb eine (neue) Professionalität gefragt, die im Stande ist, über schulorganisatorische Fragen hinaus Prozesse des Ein- und Ausschlusses in den Blick zu nehmen, denn Schüler:innen werden zuallererst in der pädagogischen Kommunikation zu «Anderen» gemacht. Ein solches professionelles Denken und Handeln verstehen wir als «inklusionsorientierte Professionalität» (Hofstetter u. Koechlin, im Erscheinen).

Methode: Untersuchung inklusionsorientierter Professionalität in situ

Wie eine inklusionsorientierte Professionalität entwickelt und wie sie in der Praxis zur Anwendung gebracht werden kann, ist ein weitgehend unerforschtes Feld. Erkenntnisse zu Fragen der Professionalisierung und Professionalität werden in der Forschung zur Lehrer:innenbildung in der Regel auf Ergebnisse von Befragungen abgestützt. Solche Studien vermögen zwar Informationen zu Selbstbeschreibungen von Studierenden und Lehrpersonen zu geben. Einer solchen Forschungsperspektive entgeht aber der Einblick in die Binnenlogik der Praxis. Mit einem ethnografischen Zugang (Breidenstein et al., 2015) im Projekt INSIGHT untersuchen wir professionelles Handeln und Prozesse zur Aneignung einer inklusionsorientierten Professionalität deshalb in situ - also dort, wo sie stattfinden: Im Studium und in der Berufspraxis. In vier Teilprojekten (TP1: Während des Studiums im Studium, TP2: Während des Studiums im Berufsfeld, TP3: Nach dem Studium im Berufsfeld, TP4: Rekonstruktion der Habitustransformation über die Projektphasen hinweg) untersuchen wir die Ausprägung einer inklusionsorientierten Professionalität an zwei Stationen des Masterstudiums Schulische Heilpädagogik und nach Abschluss des Studiums in der beruflichen Praxis. Analysen der Professionalisierungsprozesse einzelner Studierender über den gesamten zeitlichen Verlauf des Projekts erlauben es ausserdem, Einblicke in individuelle Aneignungsprozesse einer inklusionsorientierten Professionalität zu erhalten. Ziel ist es, Bildungsprozesse von Studierenden von Beginn des Studiums bis ein Jahr nach Studienabschluss im Rahmen der Berufstätigkeit zu beobachten und zu beschreiben

Ergebnisse: Inklusionsorientierte Professionalität in einer «Schule für alle»

Mit dem Projekt erhalten wir erstmals Einblicke und Einsichten in die habitualisierten Denk- und Handlungsgewohnheiten (angehender) Schulischer Heilpädagog:innen. Diese erlauben es uns, die Frage zu beantworten, ob und inwiefern diese im Rahmen des Studiums irritiert und transformiert werden können und ob und wie sie in einer Schule für alle zu einem inklusionsorientierten Handeln genutzt werden. Die Ergebnisse des Projekts sind deshalb für Schulen ebenso relevant wie für die Hochschule für Heilpädagogik als Ausbildungsinstitution. Sie liefern wertvolle Reflexionsfolien für die Analyse pädagogischer und institutioneller Praktiken und tragen so zur Gestaltung einer inklusionsorientierten Schule für alle bei. Eine inklusionsorientierte Professionalität geht nicht nur Schulische Heilpädagog:innen etwas an. Auch Lehrpersonen, Assistenzen, Therapeut:innen und Schulleitende tragen durch ihre Praktiken des Tuns und des Sprechens dazu bei, dass Schüler:innen in Sitzungen, im Unterricht, in Gesprächen kategorisiert und hierarchisiert werden. Das Forschungsprojekt generiert deshalb auch für Fragen der multiprofessionellen Zusammenarbeit wichtige Hinweise.

Literatur

  • Becker, R. & Schoch, J. (2018). Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR. Expertenbericht von Rolf Becker und Jürg Schoch im Auftrag des SWR. Expertenbericht
  • Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. UTB.
  • Hofstetter, D. (2017). Die schulische Selektion als soziale Praxis. Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I. Beltz Juventa.  
  • Hofstetter, D. & Koechlin, A. (im Erscheinen). Inklusionsorientierte heil- und sonderpädagogische Professionalität und die Transformation habitualisierter Denk- und Handlungsgewohnheiten. In C. Stalder & W. Burk, Entwicklungsorientierte Bildung – ein Paradigmenwechsel. Beltz Juventa.
  • Weisser, J. (2017). Konfliktfelder schulischer Inklusion und Exklusion im 20. Jahrhundert: Eine Diskursgeschichte. Beltz Juventa.