Abschiedsvorlesung: «Erzählte Be- und Enthinderung»

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Prof. em. Dr. Susanne Schriber hielt an ihrer Abschiedsvorlesung eine bewegende und inspirierende Rede, in welcher sie aus drei verschiedenen Perspektiven auf ihre berufliche Laufbahn an der HfH zurückblickte.

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Prof. Claudia Ziehbrunner, Leiterin des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen, begrüsste die zahlreich erschienenen Gäste zur Abschiedsvorlesung «Erzählte Be- und Enthinderung: Zur Doppelrolle von Fachperson und Expertin in eigener Sache – sieben biografische Vignetten» von Prof. em. Dr. Susanne Schriber.

In zwei «Akten» – einem Rückblick sowohl horizontal auf der Zeitachse (berufsbiografische Daten) als auch vertikal im Gefüge der HfH (Wirkung und Wirken) – würdigte Claudia Ziehbrunner die Emerita aus «ihrem» Institut. Sie habe sich geehrt gefühlt, mit Susanne Schriber zusammenarbeiten zu dürfen und «ihr unermüdliches Engagement, ihre tiefgründige Verbindung von Hingabe und Expertentum sowie ihre Wortgewandtheit sehr geschätzt».

Und diese Wortgewandtheit bewies Susanne Schriber einmal mehr in ihrer inspirierenden Rede, welche sie zunächst mit Vorworten eröffnete, in welchen die den Ausführungen zugrundeliegenden Theorien erläutert wurden. Die Theorie war bedeutsam, um die anschliessenden sieben Narrationen an diesem Abend einordnen zu können. Sie ist es zudem für die Leser:in, um den vorliegenden Nachbericht zu verstehen.

Erkenntnistheoretische Perspektiven

Markus Dederich diskutiert in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2013 die Komplexität des Erkenntnisproblems: Jede Erkenntnis ist an ein Erkenntnissubjekt gebunden. Daraus entwickelt er drei erkenntnistheoretische Perspektiven – «Die Perspektive der dritten, zweiten und ersten Person», so auch der Titel des Aufsatzes. Diese stellen drei unterschiedliche Zugänge der Erkenntnis dar.

Die Perspektive der dritten Person liegt dem Objektivitätsideal des derzeitigen Wissenschaftsverständnis zugrunde, also dem idealerweise distanzierten Beobachtungsstandpunkt von Forschenden. Die Perspektive der zweiten Person vertritt eine relationale Sicht des Menschen und beruht somit auf Nähe und Bezogenheit. Damit kommen auch Gefühle ins Spiel, die subjektiv und kontextabhängig sind und Erkenntnisse mitsteuern. Die dritte Perspektive schliesslich rückt den Gesichtspunkt der Subjektivität ins Zentrum der Betrachtung. Hier steht die Frage im Vordergrund, wie diejenigen, die bisher Gegenstand von Wissen waren, die Welt und sich selbst in dieser Welt erfahren – als Subjekte. Die beiden letztgenannten Perspektiven sind ein Verknüpfungspunkt zur Narrativen Heilpädagogik oder der sogenannten «Erzählten Behinderung». Es geht dabei um die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen, um ihre Erlebnisse und Erfahrungen, die aus ihrer Perspektive erzählt, gedeutet und eingeordnet werden.

Erzählte Be- und Enthinderung

«Es war ein Donnerstag im Frühjahr 1957 als das Kind in Zürich zur Welt kam, es war ein warmer Frühlingstag. Das Kind kam mit einer Körperbehinderung zur Welt», begann Susanne Schriber die Erzählung – eine biografische Erzählung, die den Zuhörenden intime Einblicke in ihr Leben ermöglichte.

Mit sieben Vignetten, die unterschiedliche Erfahrungsbereiche in ihrem Leben darstellten, tauchte sie ein in die selbstbezügliche Perspektive der ersten Person. Dazu präsentierte sie Fotos in Schwarz-Weiss aus ihrer Kindheit. Durch die anschliessenden Reflexionen zu jeder Vignette zeigte Susanne Schriber auf, wie sie in der beruflichen Tätigkeit an der HfH die Perspektive der zweiten und dritten Person eingenommen hat, nämlich als Dozentin und Expertin im Fachbereich «körperlich-motorische Entwicklung». Sie berichtete von Lehre, diversen Projekten und einschlägigen Publikationen in diesem. In ihrer Erzählung bildete Susanne Schriber Brücken zwischen dritter, zweiter und erster Perspektive, die eindrucksvoll veranschaulichten, wie sich die drei Perspektiven in ihrer beruflichen Laufbahn verschränkten.

Selbstvertretung, Selbstbestimmung und Selbständigkeit

Zur Vignette mit dem Titel «Peers und soziale Gemeinschaft» erzählte sie zunächst aus ihrer Kindheit und der Gruppe der «grossen» Mädchen: «Es war die Zeit, in welcher ein Bewusstsein keimte, dass es so etwas wie eine Identität «körperbehindert-sein» gibt. Dies nährte das Anliegen der Selbstvertretung, die Stimme in eigener Sache wahrzunehmen und damit die Perspektive der ersten und zweiten Person.»

Danach führte Susanne Schriber aus, wie wichtig es ist, dass Kinder mit Körper- und Mehrfachbehinderungen selbstständig arbeiten und lernen können. Denn in ihren Aktivitäten sind sie überproportional häufig auf Hilfe und Assistenz angewiesen, und erleben sich dadurch wiederkehrend in der Rolle der Hilfsempfangenden. «Enthindernd» ist es, sich im Rahmen der eigenen Voraussetzungen als kompetent, mitbestimmend und selbstwirksam erleben zu können.

Susanne Schriber sprach in ihrer Vorlesung neben «Behinderung» wiederholt von «Enthinderung», um zu betonen, dass das Leben mit Beeinträchtigungen nicht nur ein «be-hindertes», sondern auch ein reiches und erfülltes Leben – ein «ent-hindertes» Leben sein kann. Die positive Grundeinstellung und die Lebenslust spürte man aus ihren Schilderungen zu den einzelnen Vignetten förmlich heraus.

Um anschliessend die Perspektive der dritten Person zu schildern, sprach Susanne Schriber über die Tagung «Lust und Frust -– Sexualität von Menschen mit motorischen Beeinträchtigungen», bei welcher das Thema Selbstbestimmung eine wichtige Rolle spielte. Diese wurde 2018 von Susanne Schriber zusammen mit Anna Cornelius-Hallauer sowie dem Berufsverband SVFKM konzipiert und durchgeführt. «Es ging mir darum, den Körper in seinem So-Sein sichtbar zu machen, und der selbstbestimmten Lust am besonderen Körper Raum zu geben», verdeutlichte Susanne Schriber ihre Beweggründe. Im Anschluss zur damaligen Tagung wurden auch die Bilder des Fotografen Jérôme Deya ausgestellt. Zur News

«Enthinderungsfaktoren»

In ihren Nachworten schliesslich fasste die Referentin drei persönliche Erkenntnisse aus den Erzählungen zusammen, die sie als Appell der «Enthinderung» den Gästen mit auf den Weg gab. Es waren dies Gedanken zur Bedeutung von Orten und Räumen, zu Förderung und Bildung und schliesslich zu Hilfsmittel und Beziehungen.

«Förderung im motorischen wie im schulischen Bereich, sowohl separativ wie auch integrativ, war mir grosses Geschenk der Ent-Hinderung, der Überwindung meiner Be-Hinderung bzw. der Integration meines Behindert-Seins. Der Slogan zum HfH-Jubiläum «Bildung für alle» hat eine umfassende Bedeutung und muss, was immer auch geschichtlich auf uns zukommt, wachgehalten werden. Bildung wurde mir nicht nur Zusicherung von Inklusion, sondern auch Öffnung des emotionalen und geistigen Innenraums», betonte sie.

Weiter strich sie die anerkennenden und unterstützenden Beziehungen als womöglich bedeutungsvollsten Enthinderungsfaktor heraus. Die persönlichen Erzählungen aus ihrer frühen Biografie beendete sie mit Danksagungen, denn «nur dank dem tragenden Institution HfH mit ihren Mitarbeiter:innen und der vielen im Fachbereich Mitwirkenden und Studierenden sei eine gelingende Tätigkeit im Fachbereich möglich gewesen.» Zum Abschluss spielte sie einen schwungvollen Song der kongolesischen Band «Benda Bilili» ein, deren Mitglieder alle eine motorische Beeinträchtigung haben. «Benda Bilili» bedeutet in Lingála «Das Verborgene sichtbar machen».

Aktuelle Projekte

Prof. Dr. Susanne Schriber ist Autorin und Herausgeberin von Fachliteratur im Fachbereich «körperlich-motorische Entwicklung». An der HfH leitet sie weiterhin zusammen mit Prof. Dr. Carlo Wolfisberg das Projekt «Zwischen Anerkennung und Missachtung», welches vom Schweizerischen Nationalfonds finanziell unterstützt wird, und mit Prof. Dr. Melanie Willke hat sie soeben eine Forschungsarbeit zur Schülerschaft an Schulen in der Deutschschweiz für Kinder mit Körper- und Mehrfachbehinderungen abgeschlossen. Zum Projekt

Die HfH freut sich auf die weiterhin bestehende Zusammenarbeit mit Susanne Schriber und dankt ihr herzlich für die eingebrachte Expertise als Dozentin und als geschätzte Mitarbeiterin der Hochschule.

Die Abschiedsvorlesung fand statt am 1. Dezember 2021. Vor Ort waren etwa 70 Personen anwesend, an der Online-Übertragung nahmen weitere 60 Personen teil. Nach der Veranstaltung liess man den Abend bei einem gemütlichen Apéro ausklingen. Der Event wurde unter Beachtung des Schutzkonzepts der HfH durchgeführt.

Autorin: Kristina Vilenica, MA, Kommunikation, HfH