Mythos Rollenklärung

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Multiprofessionelle Kooperation gilt als Schlüssel für inklusive Schulentwicklung. Doch warum scheitert sie so oft? In der Praxis wird häufig davon ausgegangen, dass eine klare Rollenverteilung im Voraus die Lösung sei. Dieses Forschungsprojekt stellt diese weit verbreitete Annahme grundlegend in Frage. Durch theoretische Analysen und empirische Studien untersuchen wir, wie Rollenklärungen tatsächlich auf Kooperationsprozesse wirken – und wann sie möglicherweise sogar hinderlich sind. Dabei entwickeln wir neue Perspektiven für eine flexible, situationsangemessene Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen.

Projektleitung

David Labhart Titel Prof. Dr.

Funktion

Professor für Systementwicklung und Inklusion

Fakten

  • Dauer
    01.2025
    12.2026
  • Projektnummer
    5_70

Ausgangslage

Multiprofessionelle Kooperation – also die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen – ist alles andere als selbstverständlich oder problemlos.

Studien zeigen: In der praktischen Zusammenarbeit tauschen sich Fachkräfte am häufigsten über einzelne Schüler:innen aus oder teilen ihre Aufgaben klar auf. Was hingegen viel seltener passiert, ist gemeinsame Weiterentwicklung oder das gemeinschaftliche Planen von Unterricht (Luder, 2021, S. 115). Das ist problematisch, denn gerade diese tieferen Formen der Zusammenarbeit gelten als entscheidend für die Professionalisierung und nachhaltige Entwicklung inklusiver Schulen (Grosche, Fussangel & Gräsel, 2020). Trotz zahlreicher Versuche, die multiprofessionelle Kooperation im schulischen Umfeld zu verbessern, bleibt dies ein mühsames Unterfangen – Gräsel, Fußangel und Pröbstel (2006) sprachen bereits vor fast zwei Jahrzehnten treffend von «Sisyphosarbeit». Sie stellten fest, dass für echte Zusammenarbeit «möglicherweise weiter reichende Veränderungen des 'Arbeitsplatzes Schule' erforderlich» (ebd., S. 217) seien.

Welche Veränderungen genau nötig sind, ist bis heute unklar. Einige qualitative Studien (Labhart, 2019; Sonntag, 2022; Vogel, 2005; Widmer-Wolf, 2014) weisen darauf hin, dass die Möglichkeiten echter Kooperation eng mit der «Institution schulische Behinderung» (Powell, 2007) zusammenhängen. Diese Erkenntnisse sind jedoch bisher kaum in die Schulpraxis eingeflossen, und auch die theoretischen Konsequenzen wurden noch nicht systematisch durchdacht. Stattdessen wird postuliert, dass Kooperationsprobleme durch eine vorab getroffene Klärung von Zuständigkeiten und Rollen gelöst werden könnten (Demmer, Heinrich, & Lübeck, 2017; Gebhard et al., 2014; Quante, Urbanek, Munser-Kiefer, & Rank, 2022).

Das Forschungsprojekt «Mythos Rollenklärung» hat zum Ziel, diesen weit verbreiteten Ruf nach einer vorherigen Klärung von Zuständigkeiten je nach Berufszugehörigkeit kritisch zu hinterfragen.

Dabei werden folgende Fragestellungen bearbeitet:

  • Auf welche (historischen, institutionellen) Voraussetzungen gründet der Ruf nach Rollenklärung?
  • Wann sollen in einem Prozess der multiprofessionellen Kooperation Rollen/Zuständigkeiten geklärt werden?
  • Welche Auswirkungen haben die Klärungen von Rollen resp. die Rollenrigidität auf die inklusionsorientierte Kooperation?
  • Wie lässt sich als Professionelle:r in Situationen der multiprofessionellen Kooperation inklusionsorientiert handeln?

Vorgehen

Das Forschungsprojekt bearbeitet die Forschungsfragen einerseits theoretisch, indem Voraussetzungen der Rollenklärung in soziologischer Weise historisiert und ent-naturalisiert werden.

Andererseits werden Rollen- und Zuständigkeitsklärungen und deren Auswirkungen explorativ durch Einzelfallstudien nachgegangen. Es handelt sich dabei um ethnographisch inspirierte Forschungen, die insbesondere auch Gruppeninterviews beinhalten. Die für die Ethnografie zentrale Distanzierung (Breidenstein, Hirschauer, Kalthoff, & Nieswand, 2020) erfolgt über die hermeneutische Analyse der Gruppeninterviews (Graf, 2008) in einer geleiteten Forschungsgruppe, in der mehrere Studierende Daten einbringen.

Erwartete Ergebnisse

Die Ergebnisse tragen dazu bei, ein differenziertes Bild der Auswirkungen der «modernen Funktionsdifferenzierung» im Schulfeld zu erhalten und die multiprofessionelle Kooperation zum Vorteil einer inklusiven Schule weiterzuentwickeln.

Literatur

  • Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., & Nieswand, B. (2020). Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung. München: UVK.
  • Demmer, C., Heinrich, M., & Lübeck, A. (2017). Rollenklärung als zentrale Professionalisierungsherausforderung im Berufsfeld Schule angesichts von Inklusion. Zur gegenstandsorientierten Konzeption einer Lehrerfortbildung am Beispiel von Schulbegleitungen. Die Deutsche Schule, 109(1), 28–42.
  • Gebhard, S., Happe, C., Paape, M., Riestenpatt, J., Vägler, A., Wollenweber, K. U., & Castello, A. (2014). Merkmale und Bewertung der Kooperation von Sonderpädagogen und Regelschullehrkräften in inklusiven Unterrichtssettings. Empirische Sonderpädagogik, 6(1), 17–32.
  • Graf, E. O. (2008). Forschen als sozialer Prozess. Luzern: Verlag an der Reuss.
  • Gräsel, C., Fußangel, K., & Pröbstel, C. (2006). Lehrkräfte zur Kooperation anregen—Eine Aufgabe für Sisyphos? Zeitschrift für Pädagogik, 52(2), 205–219.
  • Grosche, M., Fussangel, K., & Gräsel, C. (2020). Kokonstruktive Kooperation zwischen Lehrkräften. Aktualisierung und Erweiterung der Kokonstruktionstheorie sowie deren Anwendung am Beispiel schulischer Inklusion. Zeitschrift für Pädagogik, 66(4), 461–479.
  • Labhart, D. (2019). Interdisziplinäre Teams in inklusiven Schulen. Eine ethnografische Studie zu Fallbesprechungen in multiprofessionellen Gruppen. Bielefeld: transcript.
  • Latour, B. (2007). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Lütje-Klose, B., & Miller, S. (2017). Kooperation von Lehrkräften mit allgemeinem und sonderpädagogischem Lehramt in inklusiven Settings. Forschungsergebnisse aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. In B. Lütje-Klose, S. Miller, S. Schwab, & B. Streese (Hrsg.), Inklusion: Profile für die Schul- und Unterrichtsentwicklung in Deutschland, Österreich und der Schweiz: Theoretische Grundlagen, empirische Befunde, Praxisbeispiele (S. 201–213). Münster und New York: Waxmann.
  • Luder, R. (2021). Integrative Förderung in der Schweiz Eine empirische Studie zur praktischen Umsetzung sonderpädagogischer Unterstützung und Förderung in integrativen Regelklassen in der Schweiz. Fribourg: Habilitationsschrift.
  • Powell, J. J. W. (2007). Behinderung in der Schule, behindert durch Schule? Die Institutionalisierung der «schulischen Behinderung». In A. Waldschmidt & W. Schneider (Hrsg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (S. 321–343). Bielefeld: transcript.
  • Quante, A., Urbanek, C., Munser-Kiefer, M., & Rank, A. (2022). Entromantisierung der Kooperation von Lehrkräften in inklusiven Settings: Eine kritische Bestandsaufnahme von Voraussetzungen und Spannungsfeldern. k:ON - Kölner Online Journal für Lehrer*innenbildung, Nr. 5, nationale und internationale Perspektiven.
  • Sonntag, M. (2022). Multi-professional cooperation in the Austrian school system and its implications for Inclusive Education.
  • Vogel, C. (2005). Mythos Kooperation. Die Klischierung des Legitimationsproblems in aktuellen Institutionalisierungsformen der Schulsozialarbeit. In E. M. Piller & S. Schnurr (Hrsg.), Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz (S. 197–228). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
  • Widmer-Wolf, P. (2014). Praxis der Individualisierung. Wie multiprofessionelle Klassenteams Fördersituationen für Kinder im Schulalltag etablieren. Opladen: Budrich UniPress.