Ausgangslage und Ziele
Biografie kann als lebenslanger Prozess der Aufschichtung und Interpretation von bewussten und unbewussten Erfahrungen verstanden werden, der das gegenwärtige Handeln prägt (Gudjons et al., 2020, S. 21) und somit auch Einfluss auf pädagogisches (Inter-)Agieren nimmt. Biografiearbeit als methodisch organisierte berufsbiografische Selbstreflexion und inzwischen anerkannter hermeneutisch-sinndeutender Forschungsansatz der Sozialwissenschaften kann dazu beitragen, Sinnzusammenhänge biografischer Erfahrungen herzustellen, „Regeln“ der Sinnherstellung zu rekonstruieren, Selbstverstehen anzuregen und zukünftige Handlungs-perspektiven zu erarbeiten. Dabei werden über individuelle Momente hinaus auch gesellschaftliche, kulturelle und soziale Bedingungen des Lebens und Erlebens reflektiert, wodurch das Verstehen gesellschaftspolitischer Prozesse möglich wird (Gudjons et al., 2020, S. 13-16). Für die pädagogische Arbeit postulieren Gudjons et al. (2020), dass über die biografische Selbstreflexion eine einfühlsam-verstehende respektive mentalisierende Haltung sich selbst gegenüber, aber auch den jungen Menschen in Schwierigkeiten gegenüber entwickelt werden kann, da das Wissen um die eigene Geschichte, destruktive Übertragungsprozesse (also die Übertragung eigener Anteile und eigener unverarbeiteter Konflikte auf junge Menschen) als solche erkennen lässt. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil pädagogische Fachpersonen wie Lehrpersonen, SHP usw. es immer mit dem „Diktum der zwei Kinder“ (Bernfeld, 1925) zu tun haben: Dem Kind, das vor ihnen steht und dem inneren, verdrängten Kind in ihnen (Fatke, 2022). Mit dieser rekursiven Figur des inneren Kindes und den Implikationen für die pädagogische Arbeit bereitete Bernfeld der Forderung einer biografisch-selbstreflexiven Pädagogik bereits früh einen Weg (Trescher, Büttner & Datler, 1993). Dass die selbstreflexive und berufsbiografische Arbeit als wichtiger Bestandteil von Professionalisierungsprozessen verstanden werden kann, wird gemeinhin, etwa von Nentwig-Gesemann (2011) sowie von Helsper (2021) damit begründet, dass die genannten Erfahrungen als Resonanzboden das Zusammensein mit anderen Menschen, so auch mit den Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten prägen. Helsper (2021), Bohnsack (2020) und Kraimer (1994) beschreiben diesen Prozess als Teil einer (berufs-)biografischen Prozessperspektive der Herausbildung von Professionalität im Lebenslauf. In diesem Prozess wird eine eigenständige berufliche Identität begründet und entwickelt, in dem sich Wissensbeständen, Orientierungen, Motiven und Praxen als individuelle Voraussetzung für die Ermöglichung von Professionalität in bestehenden institutionellen Rahmungen herausbilden. Das als Anschubprojekt geplante Forschungsprojekt setzt hier an und untersucht in einem ersten Schritt, wie diese theoretischen Überlegungen methodisch nach den Ausführungen von Gudjons et al. (2020) für Studierende in (heil- und sonder)pädagogischen Studiengängen umsetzbar sind und welche Erlebensweisen und Erkenntnisse Studierende hierdurch beschreiben.
Die Hauptforschungsfrage besteht darin, inwieweit berufsbiografische Selbstreflexionsprozesse dazu beitragen können, biografische Momente, welche die pädagogische Praxis determinieren, zu identifizieren. Diese biografischen Momente entfalten im Wesentlichen unbewusst ihre Wirkungen auf die pädagogische Praxis. Dieses Identifizieren und Bewusstwerden der Wirkungen der eigenen Biografie ist als Prozess der Selbstaufklärung und Selbstreflexion zu verstehen. Diese Selbstreflexion ermöglicht die zumindest partielle Emanzipation von den Wirkmächten unreflektierter biografischer Ereignisse. Diese Bewegung der Selbstreflexion und Emanzipation wird im Folgenden näher beschrieben.
Für das Forschungsvorhaben wurde eine Anschubfinanzierung bewilligt. Im Rahmen des Projektes wird zunächst qualitativ-inhaltsanalytisch die Umsetzung der Konzeptualisierung von Biografiearbeit nach Gudjons untersucht werden. Das Datenmaterial soll in einem Anschlussprojekt tiefenhermeneutisch und dispositivanalytisch ausgewertet und um Daten aus Selbsterfahrungsgruppen nach der Konzeptualisierung von Mattke und Otten (2020) bzw. Rogal (2009) und nach Ansätzen der strukturalen Psychoanalyse in der lacanianischen Tradition ergänzt werden. Hieraus soll perspektivisch ein Grossforschungsprojekt mit dem Titel „Reflexive Professionalisierung (heil-)pädagogischer Fachpersonen durch biografische Selbsterfahrung“ entstehen. In der Reflexion von möglichen unbewussten Übertragungsprozessen und „blinden Flecken“ wird die Praxisrelevanz gesehen. Das Forschungsprojekt wird ausserdem in der theoretischen Auseinandersetzung zu Professionalisierung und Selbstreflexion verortet und will einen psychodynamischen Beitrag zum gegenwärtigen Diskurs leisten. Des Weiteren wird die Praxeologie als Leitbegriff der Heil- und Sonderpädagogik systematisch verortet.