«Sonderschulen sind diskriminierend!»
Reportage
Vor über zehn Jahren hat die Schweiz die Behindertenrechtskonvention (BRK) ratifiziert. Doch bei der Umsetzung hapert es deutlich, sagt Markus Schefer, der für die Schweiz im UNO-Ausschuss einsitzt.

Seit er 1988 als Hilfsassistent angefangen hat, beschäftigt sich Markus Schefer mit Menschenrechten. Als Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel hat er seinen Schwerpunkt auf die Rechte von Menschen mit Behinderung gelegt. «Ich habe mich gefragt: Wo lohnt es sich in der Schweiz, sich nicht nur akademisch für die Menschenrechte einzusetzen?», erläutert der gebürtige Appenzeller diesen Fokus. «Im Bereich der Behinderung sah ich ein grosses Potential.» Kaum jemand kennt die Behindertenrechtskonvention (BRK) so gut wie er. Im Video-Call mit der HfH-Wissenschaftskommunikation begründet er, welche Rolle sie in der aktuellen Debatte rund um die inklusive Schule spielt und wieso Sonderschulen eigentlich abgeschafft gehören.
Markus Schefer, Sie sagen, dass es aus der Sicht der BRK keine Sonderschulen mehr geben dürfte. Wie kommen Sie darauf?
Die Behindertenrechtskonvention geht davon aus, dass Segregation an sich eine Diskriminierung ist. In Artikel 5 gibt es ein Verbot der Diskriminierung. Deshalb darf es aus der Sicht der BRK keine Sonderschulen mehr geben. Der Sachverhalt ist recht klar.
Lassen Sie uns grad beim ersten Teil einhaken. Warum wird der Besuch einer Sonderschule per se als diskriminierend eingestuft? So klar scheint uns dies nicht.
Um das zu verstehen, muss man einige Jahrzehnte zurückgehen. Der Urtypus, auf den alle späteren Überlegungen zurückgehen, war die Rassendiskriminierung. Auch in der Bildung herrschte eine strikte Rassentrennung vor. 1954 fällte der Oberste Gerichtshof der USA ein wegweisendes Urteil, das die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärte. Man wollte solche Parallelwelten abschaffen.
Das ist nachvollziehbar. Aber was bedeutete das für Menschen mit Behinderung?
Für sie war dieses Urteil äusserst relevant, weil sie damals bereits eine lange Geschichte von umfassenden Parallelwelten hinter sich hatten.
Welche meinen Sie?
Eklatant waren die sogenannten «ugly laws», die von 1867 bis 1974 in Kraft waren. In verschiedenen Städten der USA war es verboten, sich öffentlich mit entstelltem Gesicht zu zeigen. Darüber hinaus gab es strikt getrennte Lebensrealitäten im Bereich der Bildung, im Bereich der Arbeit, im Bereich des Wohnens. Noch heute sieht man in der Öffentlichkeit nicht so viele Leute mit Behinderungen, wie es eigentlich gibt – auch bei uns in der Schweiz.
Und der Zusammenhang zu unseren Sonderschulen?
Eine Sonderschule ist ebenfalls eine solche Parallelwelt. Die Kinder und Jugendlichen werden darin «versteckt». Es ist eines der Kernziele der Konvention, solche Parallelwelten abzuschaffen. Der Grundsatz der Inklusion ist in Artikel 3 der Konvention ausdrücklich drin.
Auf einer gesellschaftlichen Ebene leuchtet das ein. Aber auf der individuellen Ebene würden wir ein paar Fragezeichen setzen …
… nur zu, ich finde es spannend, wenn man sich kritisch mit der BRK auseinandersetzt.
Nehmen wir als Beispiel einen Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störung. Er hat einen Platz in der Sonderschule gefunden, der genau seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entspricht. Er wird professionell gefördert und fühlt sich zugehörig. In der Regelschule war dies nicht der Fall. Also ist die Sonderschulung für ihn doch klar die bessere Lösung. Was übersehen wir?
Wenn man den heutigen Zustand der Schule nimmt, stimmt das sicher. Aber der Ansatz der BRK besteht darin, die Regelschule zu ändern. Das ist die innere Logik. Wenn man nur von der aktuellen Situation ausgeht, die Schule also so nimmt, wie sie eben ist, dann kann man das Problem der Diskriminierung nicht lösen. Die BRK verlangt nicht einfach, Sonderschulen abzuschaffen, das ist nur eine Seite der Medaille.
Was ist die andere Seite?
Die Regelschule muss so umgestaltet werden, dass sie auch für Menschen mit einer Behinderung offen ist, und nicht die Sonderschule die bessere Lösung ist – mangels einer inklusiven Schule.
Sie gehen jetzt von einer idealen Schulwelt aus. Der Trend geht aber gerade in eine andere Richtung. Bildungspolitische Vorstösse wie die Förderklassen-Initiative im Kanton Zürich wollen das separative Angebot stärken.
Das ist eine verständliche, aber ein bisschen unbeholfene Art, um mit dem Problem umzugehen.
Warum?
Weil man zu wenig berücksichtigt, weshalb gewisse Kinder verhaltensauffällig sind. Ich sage nicht, dass das in einer inklusiven Schule nie ein Problem ist. Aber wenn man jemandem immer das Gefühl gibt, nicht direkt dazuzugehören, dann macht das etwas mit dieser Person.
Das ist nachvollziehbar. Gehen wir mal davon aus, dass die inklusive Schule Realität geworden ist und nehmen nochmals den Jugendlichen mit ASS als Beispiel. Er ist hoch impulsiv, drangsaliert die anderen und verunmöglicht jede Form eines geordneten Unterrichts. Klar: Er hat er ein Recht auf Inklusion. Doch haben die anderen Kinder ihrerseits nicht ein Recht auf Integrität?
Dazu würde ich zwei Dinge sagen. Erstens müsste man prüfen: Würde der autistische Jugendliche auch in einem wirklich inklusiven Umfeld noch so reagieren? Oder ist seine Reaktion eine Reaktion darauf, dass er im System schlecht aufgehoben ist und von den Mitschülern ausgegrenzt wird? Aus dem Anderssein kann man nämlich nicht ableiten, dass es nicht möglich ist, dass er mit den anderen zusammen in die Schule geht.
Und zweitens?
Die Behindertenrechtskonvention lässt prinzipiell keine Schlechterstellung von Leuten mit Behinderung wegen ihrer Behinderung zu. Eine Diskriminierung lässt sich durch nichts rechtfertigen. Man kann also nicht sagen: Ja, wenn genügend gewichtige Gründe vorliegen, dann ist eine Schlechterstellung zulässig. Das ist der Kern der Behindertenrechtskonvention, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat.
Haben wir da also etwas unterschrieben, das wir gar nicht umsetzen können?
Wir können schon. Aber es ist uns bis heute nicht gelungen. Man ist sich in vielen Bereichen vermutlich nicht ganz bewusst gewesen, dass es um eine Grundsatzfrage geht: Wie gestalten wir unsere Schule neu? Die grosse Mehrheit hat nicht begriffen, wie ambitioniert die Konvention ist. Und der Rest hat nichts gesagt, um sie nicht abzuschrecken.
Warum wurde das Kleingedruckte übersehen, wenn die BRK so tiefgreifende Veränderungen zur Folge hat?
Die Schweiz hat später als andere Länder damit begonnen, eine menschenrechtliche Perspektive auf die Behinderung einzunehmen. Man nahm im Jahr 2000 das Diskriminierungsverbot in die neue Bundesverfassung hinein, war sich aber nicht bewusst, was das konkret verändert. 2014 waren wir noch im IV-Denken drin, viele haben deshalb gar nicht realisiert, welche Logik hinter dieser BRK steht. Das ist im Grossen und Ganzen heute noch so, weil man einen menschenrechtlichen Chauvinismus beobachten kann.
Was meinen Sie mit «Chauvinismus»?
Das verbreitete Denkmuster ist: Die Schweiz macht es schon gut mit den Menschenrechten. Natürlich, hier und da müsste man noch ein bisschen feilen, aber insgesamt läuft es doch gut. Wir sehen uns immer als eine Art Vorreiter.
Auch was die Bildung betrifft?
Ich denke schon. Dabei stimmt dieser Eindruck in vielen Bereichen nicht. Sehen Sie, eine Assistentin von mir will aktuell mit ihrem gehörlosen Kind nach Kopenhagen ziehen, weil man in Dänemark ganz anders über Behinderung denkt, als wir es hier machen. Dann stimmt doch hier in der Schweiz etwas nicht.
Das bedeutet: Wir haben noch ein rechtes Stück Weg vor uns. Herr Schefer, ganz herzlichen Dank fürs Gespräch.
Etwas anders sieht es Kai Felkendorff, Dozent an der PHZH: Für ihn ist das Recht auf Inklusion anderen Grundrechten nicht übergeordnet, sondern steht auf gleicher Ebene mit diesen. Wir wollten zudem von ihm wissen, wie die aktuellen politischen Bestrebungen nach schulischer Separation einzuordnen sind. Im Video-Interview erläutert er seine Sicht auf das Phänomen.
«In der Schule kollidieren permanent verschiedene Rechte!», sagt Kai Felkendorff, Dozent an der PHZH, im Gespräch mit Steff Aellig von der Wissenschaftskommunikation HfH.
Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH-Wisschschaftskommunikation (September 2025).